MIT Technology Review 10/2018
S. 46
Horizonte
Essay
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Der Sog des Zentrums

Am Beginn jeder neuen digitalen Technologie steht immer ein großes Versprechen: dass die Dienste dezentral sind und den Nutzern die Macht zurückgeben. So auch die Blockchain. Es wird nicht zu halten sein.

Das Internet interpretiert Zensur als technischen Fehler und leitet Informationen daran vorbei.“ Den Satz formulierte John Gilmore, Mitgründer der digitalen Bürgerrechtsorganisation Electronic Frontier Foundation (EFF), in einem Interview mit dem „Time Magazine“. Er wurde in den 90er-Jahren zum Schlachtruf der frühen Internetaktivisten, denn er brachte das technologische Freiheitsversprechen des Internets auf den Punkt: Das Internet lässt sich nicht zensieren, denn es ist dezentral aufgebaut.

Man kann rückblickend darüber streiten, ob das Internet dieses Freiheitsversprechen jemals eingelöst hat. Heute lachen Google, Amazon und Facebook über die Träumerei eines hierarchiefreien Netzes. Das Internet hat die Machtverhältnisse hier und da sicher verschoben, aber auch konzentriert und auf damals unvorstellbare Weise monopolisiert.

Das gleiche Freiheitsversprechen umweht heute die Blockchain-Technologie. Wie das Internet damals soll heute die Blockchain Zensur und staatliche Einflussnahme unmöglich machen. Wie das Internet damals soll die Blockchain heute Hierarchien abbauen, die Peripherie stärken, den Schwachen eine Stimme und uns allen unsere Freiheit schenken – unreguliert, wild und auf Augenhöhe. Onlinedienste „serverless“ – also ohne zentralisierte Rechnerinfrastruktur – sollten so möglich sein, weil die Daten verteilt auf allen Computern der Teilnehmer liegen. Damit ließe sich die digitale Infrastruktur und deren Kontrolle in die Hände der Nutzerinnen und Nutzer legen.

Doch es ist ausgerechnet die Geschichte des Internets, die einige Anlässe bietet, Zweifel an den Versprechungen der Blockchain-Enthusiasten zu säen. Die Dezentralität des Internets hatte ursprünglich überhaupt nichts mit irgendeinem Freiheitsdenken zu tun, sondern ergab sich aus ganz anderen Notwendigkeiten: Paul Baran, der als einer der ersten Vordenker des heutigen Internets gilt, war Mitarbeiter im Pentagon-nahen Think-Tank Rand Corporation. Er nennt in seiner Aufsatzsammlung „On Distributed Communications“ der frühen 1960er-Jahre zwei wesentliche Gründe, warum man ein dezentral organisiertes Computernetzwerk bauen solle: Der erste war militärisch – zu Hochzeiten des Kalten Krieges war das Pentagon daran interessiert, die Daten der zahlreichen Radar-Frühwarnstationen schnell und sicher zur Befehlszentrale zu übertragen. Das Netz, das die Militärs sich vorstellten, sollte auch dann noch funktionieren, wenn einzelne Knotenpunkte ausfallen.