MIT Technology Review 11/2018
S. 58
TR Mondo

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SCHWEIZ

Ein geländegängiger Rollstuhl meistert Treppen

Rollstuhlfahrer haben es im öffentlichen Raum immer noch schwer. Allzu oft scheitern sie an unebenem Gelände, Bordsteinen, Schwellen und vor allem den vielen Treppen. Als der Schweizer Maschinenbaustudent Bernhard Winter im Jahr 2014 nach einem Projekt für seine Abschlussarbeit an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich suchte, dachte er: Gut wäre ein sich ausbalancierender Roboter, der auch Treppen steigen kann. Am Ende entstand ein Rollstuhl, der nicht nur Treppen erklimmen, sondern auch viele andere Hindernisse zu überwinden vermag, etwa Einstiege in Busse und Straßenbahnen.

Die Raupenschienen bewegen den Scewo Bro rückwärts die Treppe hinauf. Dabei sitzt der Fahrer immer waagerecht. Foto: Scewo

Bereits 2015 hatten er und neun weitere Studenten, unter anderem auch von der Zürcher Hochschule der Künste, den ersten Prototyp fertiggestellt. Dank einer Kombination aus großen Rädern und raupenartigen Bändern konnte das erste „Scalevo“-Modell nicht nur Treppen bezwingen, sondern auch den Einstieg in öffentliche Verkehrsmittel meistern. Dabei balanciert sich der Rollstuhl, ähnlich wie ein Segway, selbst aus. Vor zwei Jahren nahmen die Entwickler mit dem Prototyp am Cybathlon teil, einem Wettkampf der Hilfsmittel für körperlich Behinderte (siehe TR 12/2016, S. 52). Spätestens seit diesem Einsatz ist die Resonanz groß: Viele Millionen Interessierte aus aller Welt verfolgen auf den seither ins Netz gestellten Videoclips die Entwicklung des Gefährts.

Beeindruckt von dem großen Zuspruch entschied das Team, den Rollstuhl zur Marktreife zu bringen. Dafür gründete Winter zusammen mit Pascal Buholzer und dem Industriedesigner Thomas Gemperle 2017 das Start-up Scewo in Winterthur. Nach gut einem weiteren Jahr Entwicklungsarbeit konnten sie ihr Gefährt – den „Scewo Bro“ – jetzt der Öffentlichkeit vorstellen.

Er solle „auch ein Lifestyle-Produkt“ sein, sagt Winter. „Ein enger Freund, auf den man sich jederzeit verlassen kann.“ Deshalb auch das Bro für „Brother“ im Namen. Gemperle ergänzt: „Rollstuhlfahrer werden ganz anders wahrgenommen, wenn ihr Gefährt nicht nach Behindertenhilfe aussieht.“

Dazu gehört beispielsweise auch, dass sich der Sitz bis auf 90 Zentimeter hochfahren lässt, um mit anderen Personen auf Augenhöhe kommunizieren oder einen hoch gelegenen Gegenstand greifen zu können. Für die Fortbewegung auf normalem Untergrund kommen die beiden großen Räder zum Einsatz. Sie können unabhängig voneinander vorwärts und rückwärts laufen, was das Gefährt wendig macht.

Bei rutschigem Untergrund, steilen Passagen oder bei einer Treppe kann in den Raupenmodus geschaltet werden. Dafür wird die Treppe rückwärts angefahren, der Raupenantrieb senkt sich ab. Vorn stützen die Bänder, während sie hinten beginnen, die Stufen zu erfassen und den Rollstuhl nach oben zu bewegen. Bis zu 36 Prozent Steigung überwindet der Scewo Bro. Auf ebenerdiger Strecke erreicht er zudem eine Geschwindigkeit von bis zu zehn Kilometer pro Stunde. Bedient wird das Gefährt mithilfe eines Smartphones oder mit dem integrierten Joystick.

Erste Bestellungen in der Schweiz sind jetzt möglich. Die Auslieferung beginnt vermutlich Ende 2019. Hat das Team weitere Erfahrungen gesammelt, „wird auch der Export, etwa nach Deutschland, starten“, kündigt Pascal Buholzer an.

TOM SPERLICH

SCHWEDEN

65000-Einwohner-Stadt halbiert ihren CO₂-Ausstoß

Foto: Stora Enso

Wirtschaftswachstum und sinkender Kohlendioxidausstoß schließen sich aus? Nicht so im schwedischen Växjö. In der 65000-Einwohner-Stadt sank die Kohlendioxidemission in den vergangenen 20 Jahren immerhin um 54 Prozent. Gleichzeitig wuchs das Bruttoregionalprodukt um satte 89 Prozent.

Holz nutzt die Stadt Växjö als Baumaterial (l., ein Modell) und für das örtliche Kraftwerk. Foto: Alister Doyle/Reuters

Bereits 1991 fassten die Stadtoberen den Plan, ihre Kommune bis 2030 völlig fossilfrei zu bekommen. Diesem Ziel fühlen sich seitdem alle lokalen politischen Parteien verpflichtet. Für ganz Schweden soll diese Vision indes erst 2045 realisiert sein.

Zugute kommt Växjö, dass die Stadt inmitten der Wälder und Seen Südschwedens liegt. So lag die Idee nahe, den vorhandenen Rohstoff Holz verstärkt als Baumaterial zu nutzen – und zwar nicht nur für Einfamilienhäuser. Aus ihm entstanden auch neue, sechs- bis achtstöckige Hochhäuser. Ausschließlich Holz verbrennt zudem das kommunale Kraftwerk, das damit Strom erzeugt und auch nahezu alle Häuser mit Fernwärme versorgt.

Hinzu kamen weitere erfolgreiche Maßnahmen. Die Baugenehmigung für auf Dächern montierte Solarpaneele wurde abgeschafft, was einen Solarboom auslöste. Außerdem fahren die Innenstadtbusse mit Biogas aus der Kläranlage. Und der Autoverkehr geht zurück, seit die Stadt den Umstieg aufs Fahrrad attraktiver gemacht hat – nicht zuletzt dadurch, dass im Winter die Radwege noch vor den Straßen geräumt werden.

Heute stößt jeder Einwohner Växjös im Schnitt nur rund drei Tonnen Klimagas aus. Zum Vergleich: Auf einen deutschen Bundesbürger kommen elf Tonnen pro Jahr. Ab 2020 soll sogar ganz Schluss mit dem Verbrauch von Erdöl, Erdgas und Kohle sein. So dürfen beispielsweise nur noch Elektroautos als Dienstwagen angeschafft werden, Baumaschinen müssen zumindest mit Biodiesel arbeiten.

Für dieses Engagement erhielt Växjö in diesem Jahr den Green Leaf Award der EU-Kommission. Der Preis wird jährlich an eine europäische Stadt mit 20000 bis 100000 Einwohnern verliehen. Trotzdem scheinen die Bemühungen der Stadt jüngst ins Stocken geraten zu sein: Im jährlichen Umweltranking von 290 schwedischen Kommunen fiel Växjö von Platz 12 auf Platz 33. Cheryl Jones Fur, die grüne Vorsitzende des Umweltausschusses im Stadtrat, räumte der Tageszeitung „Smålandsposten“ gegenüber ein: „Es gibt in der Tat einige Dinge, wo wir ganz klar besser werden müssen. Eine Kategorie beim Ranking ist zum Beispiel die Vermeidung von Plastik in der Kommune. Darum haben wir uns nicht besonders gekümmert. Aber es könnte auch sein, dass inzwischen andere Kommunen ihre Umweltarbeit verbessert haben, was ja im Grunde gut ist.“

Doch damit nicht genug: Växjö schrammte auch knapp am schwedischen Greenwashing-Preis 2018 vorbei, der von der schwedischen Sektion von Friends of the Earth vergeben wird. Letzten Endes blieb der unwillkommene Titel zwar an der Zentrumspartei hängen, aber die Stadt gehörte zu den drei Nominierten.

Ein Grund ist der Bau eines riesigen Verkehrsknotens mit autobahnähnlichen Anschlüssen, um Växjö besser an das Fernstraßennetz anzuschließen. Sogar Teile eines Naturschutzgebietes fallen dem Projekt zum Opfer. Bürgerklagen wurden abgelehnt.

Negativ bewerteten die Umweltschützer auch die Investitionen in den Flugplatz und die Werbung für mehr Flugreisen auf zwei neuen Direktrouten nach Berlin und Amsterdam. Der Stadtrat verteidigte sich: Schließlich habe die niederländische Fluggesellschaft KLM versprochen, die Linie nach Amsterdam langfristig ausschließlich mit biobasiertem Flugtreibstoff aus Holz zu betreiben. Doch davon gibt es bisher nicht genug. So kommt das Biokerosin fürs Erste aus Kalifornien und könnte zusammen mit wachsendem Autoverkehr Växjö die gute Klimabilanz verhageln.

HANNS-J. NEUBERT