MIT Technology Review 11/2018
S. 96
Fundamente
Jubiläum

Mathe für alle

Vor 500 Jahren brachte ein Buch den Deutschen die Mathematik nahe.

Rechenbuch von Adam Ries, im Hintergrund seine Büste. Foto: Ddp Images

Sein genauer Geburtstag ist unbekannt, sein Todesdatum ebenso, eines aber kann als gesichert gelten: Der Mann hieß Adam Ries und nicht Riese. Wie das „e“ an seinen Namen und in die Redewendung „Das macht nach Adam Riese…“ kam, lässt sich heute nicht mehr nachvollziehen. Es ist eben schon ein halbes Jahrtausend her, dass Ries begann, die Deutschen das Rechnen zu lehren.

Sein eigener Lehrmeister war offenbar das Leben. Eine Universität hat er, so weit bekannt, nie besucht. Möglicherweise war es die Mühle seines Vaters im fränkischen Staffelstein, die ihn erstmals mit der Welt der Zahlen in Kontakt brachte. Schließlich musste das angelieferte Getreide genau erfasst und in die entsprechende Menge Mehl umgerechnet werden. Bergbau, Buchdruck, Handwerk, Handel, Steuern, Schuldzinsen, Geldwechsel, selbst der Ablasshandel erforderten in der Frühen Neuzeit eine zunehmende Rechenleistung, für die es aber noch keine geregelte Ausbildung gab.

In diese Lücke stießen sogenannte Rechenmeister, die Rechenschulen betrieben oder mathematische Auftragsarbeiten übernahmen. Als ein solcher ließ sich Ries (1492–1559) mit Mitte zwanzig in Erfurt nieder. Seine Kenntnisse erwarb er sich wahrscheinlich im Selbststudium und über Kontakte mit anderen Mathematikern.

1518 veröffentlichte Ries das erste von drei Rechenbüchern: „Rechnung auff der linihen“. Dieses Linien-Rechnen war die damals vorherrschende Methode. Sie kam ohne Symbole aus und war deshalb auch Analphabeten zugänglich. Wie beim Abakus standen Zeilen oder Spalten für bestimmte Zehnerpotenzen, zwischen denen Zählsteine hin- und hergeschoben und anschließend zusammengezählt wurden. Anders als beim Abakus waren die Steine allerdings nicht an Stäben befestigt, sondern lagen frei auf linierten Brettchen oder Tüchern.

Vier Jahre später folgte das zweite Lehrbuch, das auch Rechnen „auff Federn“ umfasste – also schriftlich auf Papier. Es wurde schon zu Lebzeiten mehr als hundert Mal aufgelegt und machte Ries berühmt. 1525 vollendete er die „Practica“ mit vielen praktischen Beispielen und Übungen – vom Pferdekauf über minderwertige Münzen bis zur Gründung einer Gesellschaft. Sie wurde allerdings erst 1550 gedruckt. Ebenfalls 1525 war die erste Fassung seines 500 Seiten starken Hauptwerks fertig, die „Coß“ (nach „causa“, der damaligen Bezeichnung für Variablen beziehungsweise Unbekannte). Sie beschäftigte sich mit Algebra. Für den Druck fehlte Ries allerdings das Geld. Das Manuskript gewann über seine Schüler und Söhne, die ebenfalls Rechenmeister wurden, aber trotzdem Leser und Einfluss.

Erst 1992, zu Ries’ 500. Geburtstag, wurde die Coß erstmals gedruckt. Sie zeigte, dass Ries stets auf der Höhe des mathematischen Wissens war – ohne allerdings etwas zu dessen Weiterentwicklung beizutragen. Trotzdem brachte er das Feld voran: Erstens schrieb er seine Werke nicht wie damals üblich auf Latein, sondern auf Deutsch. Damit machte er sie einer breiteren Bevölkerung zugänglich und prägte – wie sein Zeitgenosse Luther – die frühe deutsche Schriftsprache. Zweitens baute er seine Bücher konsequent didaktisch auf, mit vielen Übungsaufgaben, Gegenproben und Beispielen. Das machte ihn zu einem Pionier der Pädagogik. „Seine Bücher muten uns an, als wären sie nicht geschrieben, sondern gesprochen“, meint sein Biograf Fritz Deubner. „Er redet den Schüler immer wieder an, und darum hat man das Empfinden, Ries unterrichten zu hören.“ Drittens nutzte er arabische statt römischer Ziffern und verhalf ihnen damit zum Durchbruch.

Von seinen Büchern leben konnte Adam Ries allerdings nie. Er zog 1522 nach Annaberg und machte dort Karriere in der Bergbauverwaltung. Zudem war er ein gefragter Berater, der die Mathematik stets mit der Praxis zu verbinden wusste. So redete er beispielsweise seinem Landesherrn mit Beispielrechnungen die Idee aus, den Silbergehalt seiner Münzen zu senken. Später erstellte er eine „Brotordnung“, mit der jeder Bäcker und jeder Kunde ersehen konnte, wie viel Brot es für welches Geld bei welchen Getreidepreisen gab. GREGOR HONSEL