MIT Technology Review 12/2018
S. 114
Kolumne
Aufmacherbild
Illustration: Mario Wagner

Der Futurist

Lehrstunde

Was wäre, wenn wir den Lehrermangel mit Robotern bekämpfen würden?

Insbesondere die mündliche Beteiligung Ihrer Tochter hat sich enorm verbessert, Herr Demain.“

David Demain konnte ihr kaum zuhören. Sie war so unglaublich perfekt.

„Meine Sensoren nehmen wahr, dass ihr Puls nicht mehr hochschnellt, wenn sie vor allen spricht. Auch ihr Stimmprofil ist besser. Lisa ist selbstbewusster geworden.“

David bemerkte die skeptischen Blicke seiner Frau Annett. Ihr widerstrebte die Vorstellung noch immer, dass ihre Tochter von einem Roboter unterrichtet wurde. Aber die Erfolge des Bots waren erstaunlich.

„Ich stelle Ihnen Lisas Vitaldaten gern zur Verfügung.“

„Ich hoffe, die Daten sind geschützt?“, sagte Annett.

„Selbstverständlich, Frau Demain! Sie finden sie in Ihrem persönlichen Bereich zum Download. Der Entschlüsselungscode wird Ihnen separat per Post zugesandt.“

Frau Northeim lächelte. Der Lehrer-Bot der Firma Integrated Education Systems war ein mütterlicher Typ Mitte fünfzig, ausgestattet mit einer „natürlichen Autorität“, wie der Hersteller sein Modell bewarb. Die amerikanische Firma hatte sogar kulturelle Unterschiede berücksichtigt. Die deutsche Variante hatte nicht diese aufgesetzte Freundlichkeit dieser Mrs. Pratchett, des amerikanischen Modells.

Das Elterngespräch war beendet. Eine Frage konnte Annett sich nicht verkneifen. „Wie haben Sie es geschafft, den Notendurchschnitt der gesamten Klasse zu verbessern?“

„Ich freue mich, dass Sie zufrieden sind. Mein pädagogisches Programm basiert auf aktuellen wissenschaftlichen Studien. Zudem passe ich es individuell auf jeden Schüler an. Wenn Sie Fragen haben – Sie können mich anrufen, anchatten oder anmailen. Rund um die Uhr, sieben Tage die Woche.“

Keine Frage, dieser Bot war der Traum aller Eltern.

Das Liebig-Gymnasium in Berlin-Wedding war Deutschlands erste Schule gewesen, die gleich fünf der Lehrer-Roboter angeschafft hatte. Direktor Johannes Eimer hatte die hoch umstrittene Entscheidung verteidigt: „Wir haben zu wenige Lehrer. Entweder wir lassen Roboter unterrichten, oder wir müssen die Schüler nach Hause schicken.“

Die Notlösung entpuppte sich als Erfolgsmodell: Die fünf Frau Northeims konnten im Dauereinsatz betrieben werden, jedes Fach unterrichten und wurden nie krank. Klassen mit bis zu 60 Kindern hatten sie spielend im Griff. Und das Beste: Die Kinder liebten die Bots. Sie waren gerecht, wussten immer Antwort, korrigierten Klausuren schon bei der Abgabe, und kein Schüler hatte mehr das Gefühl, einen schlechteren Lehrer erwischt zu haben als der andere.

Schon bald konnte sich die LiebigSchule vor Elternanfragen nicht mehr retten. Andere Schulen sahen sich gezwungen nachzurüsten, damit ihnen die Schüler nicht ausgingen.

Als Annett und David gegen 21 Uhr wieder zu Hause waren, fanden sie Lisas Tür verschlossen. Ungewöhnlich, normalerweise ging ihre Tochter nicht so früh schlafen. Sie klopften vorsichtig und fanden Lisa am Schreibtisch.

„Frau Northeim möchte, dass wir morgen unser Lieblingsbuch spielen“, sagte sie. „Ich bin die Hermine und Mark Harry Potter.“

David sah seine Frau an. Sie erwiderte seinen Blick wissend. Lisa schwärmte für Mark. Es war sicherlich kein Zufall, sondern ein geschickter Motivationszug des Roboters. Das war wohl der individuelle Zuschnitt, den Frau Northeim gemeint hatte.

Sie erkannten Lisa kaum wieder. Vor einem halben Jahr noch hatte sie Englisch gehasst. Jetzt war es ihr Lieblingsfach.

„Lisa, seit wann begeisterst du dich denn so für Englisch?“, fragte David. „Was ist mit Bio? Ich dachte, du wolltest mal Tierärztin werden?“

„Nicht mehr, Papa. Ich möchte Lehrerin werden. So wie Frau Northeim.“ Jens Lubbadeh