MIT Technology Review 2/2018
S. 98
Kolumne
Aufmacherbild
Illustration: Mario Wagner

Der Futurist

Zu neuen Ufern

Was wäre, wenn Facebook einen eigenen Staat gründen würde?

Ihr müsst mich hier rausholen. Mietet ein Motorboot oder einen Hubschrauber. Was? Ja, ich weiß, dass das verrückt klingt. Aber die Leute hier drehen total durch. Die Fähre wird bestreikt, es gibt jeden Tag Demonstrationen mit brennenden Barrikaden... Bist du noch da?“ Mist, das Netz ist weg. Das wird mir allmählich wirklich zu brenzlig hier.

Eigentlich hat alles ganz harmlos angefangen. Weil ein paar kulturpessimistische intellektuelle Mittelschichtler Angst um die Zukunft ihrer Kinder hatten, bekamen die religiösen Erzkonservativen aus dem Trump-Lager plötzlich eine Mehrheit, um ihre Pläne durchzuziehen: 2018 schränkten sie die Nutzung von sozialen Netzen und Smartphones für Jugendliche per Gesetz massiv ein – und als Jugendliche galten plötzlich wieder alle unter 21! Hersteller mussten biometrische Alterssperren auf Basis von Gesichtserkennung in allen Smartphones einbauen, in öffentlichen Räumen wurden Mobiltelefone verboten, natürlich erst recht in Schulen, und es gab verpflichtende Sommerlager für die amerikanische Jugend: mit Bibelstunden, viel frischer Luft, Sport und gemeinsamen Unternehmungen – unter strikter Vermeidung von „unmoralischen oder nicht angemessenen Aktivitäten“.

Das war der Funke, der die Blechtonne in der digitalen Bronx angezündet hat. Brillante junge YouTube-Comedians rissen plötzlich keine Witze mehr, sondern begannen zu agitieren. Instagram-Schönheiten ließen sich vor brennenden Barrikaden ablichten, und Katzenbots fluteten das Netz mit Versatzstücken aus der uralten „Unabhängigkeitserklärung“ des Cyberspace: „Wir schaffen eine Welt, in die alle ohne Privilegien oder Vorurteile eintreten können“. Ein bisschen pathetisch für meinen Geschmack, aber der Hashtag #WarumEigentlichNicht? ist echt abgegangen. Auf Facebook entstand die Gruppe „New Mayflower“, die allen Ernstes darüber diskutiert hat, was wäre, wenn Facebook einen eigenen Staat gründen würde. Binnen vier Wochen hatte sie 50 Millionen Follower, darunter auch Mark Zuckerberg selbst. Schließlich war er genauso verärgert von den vielen Regierungen, die ihm ins Handwerk pfuschen wollten mit ihren Gerichtsverfahren und Regulierungen.

Als Malta pleiteging, war ihre Zeit gekommen. Die Insel hatte 2017 zwar rund vier Milliarden Dollar an Einnahmen, aber die stammten zu über 80 Prozent aus Finanzdienstleistungen. War doch nur eine Frage der Zeit, bis ihnen das nächste große Leak nach den Panama Papers das Genick bricht.

Facebook half Malta aus der Klemme und kaufte sozusagen auf einen Schlag die ganze Insel. Zuckerberg höchstpersönlich hatte dafür die größte Charity-Aktion der Facebook-Geschichte ins Leben gerufen: „Project Reboot“. Er wollte zeigen, wie eine moderne Demokratie mit der Technologie sozialer Netze aufgepeppt werden kann. Komplette Transparenz, kontinuierliche demokratische Willensbildung auf der Basis von Big Data – das sollte ein weltweiter Verkaufsschlager werden.

Aber die jungen Leute nehmen das allzu wörtlich. Gottverdammt, Facebook hat mehr als zwei Milliarden User – und alle Jugendlichen dieser Welt stellen plötzlich Anträge auf Staatsbürgerschaft, fahren hierher und fangen an – zu demonstrieren und zu programmieren. Die hacken das System, wollen echte Wahlen, Mitbestimmung, Demokratie. Am Anfang war Mark noch ganz sicher, der neue Präsident zu werden, aber das kann er sich jetzt abschminken. Wenn es irgendwo eine Hölle für Revolutionäre gibt, dann sitzt Maximilien Robespierre jetzt da unten, schaut sich den Zirkus hier an und hört gar nicht mehr auf zu lachen. Ich muss hier weg. Wer weiß, was diese Idealisten noch alles anstellen. Mist! Immer noch kein Netz. W. Stieler