MIT Technology Review 2/2018
S. 12
Aktuell

INTERVIEW

»Legastheniker verarbeiten Laute im Gehirn anders«

TR: Warum wäre es wichtig, einen Frühtest für Legasthenie bei Vorschulkindern zu haben?

Jens Brauer arbeitet als Neuropsychologe am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig. Gemeinsam mit Wissenschaftlern des Fraunhofer-Instituts für Zelltherapie und Immunologie haben sie die Grundlagen eines Frühtests für Legasthenie gelegt. Foto: MPI

JENS BRAUER: Heute erhalten Kinder oft erst nach einigen Schuljahren eine Diagnose, wenn sich der Frust schon angestaut hat. Die Frühförderung ist nicht nur vielversprechender, sie könnte den Kindern die Schulzeit enorm erleichtern.

Wie vielen Kindern könnte eine frühzeitige Diagnose helfen?

Legasthenie betrifft etwa fünf bis sieben Prozent der Bevölkerung in Deutschland, das heißt in rund jeder Grundschulklasse sitzt ein Kind.

Worauf könnte sich ein solcher Frühtest stützen?

Wir haben sehr eindrückliche Daten zur phonologischen Verarbeitung von Sprachlauten. Wenn die problematisch ist, spiegelt sich das im Erlernen des Schreibens und Lesens wider. Daher haben wir versucht, diese phonologischen Defizite zu dokumentieren: Wir haben Hirnfunktionen übers EEG (Elektroenzephalogramm) und die Hirnanatomie per MRT (Magnetresonanztomografie) kontrolliert und über eine Speichelprobe die Gene analysiert.

Legasthenie kann also vererbt werden?

Es ist schon seit Langem bekannt, dass es eine genetische Disposition und somit eine familiäre Häufung gibt. Verantwortlich sind mehrere Gene auf verschiedenen Chromosomen.

Weshalb reicht eine Genanalyse für eine Diagnose nicht aus?

Die Beteiligung der Gene ist komplex und für eine Vorhersage zu ungenau. Aus dem Grund haben wir uns der Verarbeitung sprachlicher Information zugewandt. Es lässt sich in der Tat mithilfe des MRT hirnanatomisch feststellen, dass Kinder im Vorschulalter bereits Auffälligkeiten zeigen, wenn sie ein familiäres Risiko tragen. Das zeigt sich etwa in der Entwicklung der Großhirnrinde. Diese ist in den Hirnregionen dünner, die für die Verarbeitung schriftlicher Informationen wichtig sind.

Wäre der Frühtest für alle Vorschulkinder sinnvoll?

Durchaus, aber auf jeden Fall für Kinder mit familiär bedingtem Legasthenie-Risiko. Sie alle im MRT-Scanner zu untersuchen, wäre aber zu aufwendig. Deshalb haben wir parallel mit dem einfacher handhabbaren EEG analysiert, wie sprachrelevante Informationen im Gehirn verarbeitet werden. Hier zeigen sich Muster beim Erkennen feiner sprachlicher Unterschiede. Die Unterscheidung gelingt Kindern, die Probleme beim Schreiben und Lesen haben, schlechter. Aus unseren Studien wissen wir, dass sich das bereits im Vorschulalter erkennen lässt.

Wann könnte ein Test zur Früherkennung verfügbar sein?

Das hängt von der Finanzierung unserer Forschung ab. Auf jeden Fall wird es noch einige Zeit dauern. i. wünnenberg

MEDIZIN

Sensorkapsel analysiert Verdauung

Dank ihrer Sensoren liefert die Kapsel Daten über die Gaskonzentrationen im Darm. Illustration: Kourosh Kalantar-Zadeh et al./RMIT

Videokapseln liefern bereits Aufnahmen aus dem Verdauungstrakt und erleichtern Diagnosen. Eine neue Kapsel sorgt nun für Informationen über die Prozesse selbst. Abhängig von der Temperatur konnte wahlweise die spezifische Konzentration von Sauerstoff, Wasserstoff und Kohlendioxid bis auf ein Fünftel Prozent genau bestimmt werden. Die Konzentrationen an Kohlendioxid und vor allem Wasserstoff – ausgeschieden von den Darmbakterien – lieferten detaillierte Einblicke in die Verdauungsprozesse.

Ihren Prototyp präsentierten australische Entwickler von der RMIT University in Melbourne jetzt in dem Fachmagazin „Nature Electronics“ (DOI: 10.1038/s41928-017-0004-x). Ausgestattet ist die Sensorkapsel, die einen Zentimeter dick und zweieinhalb Zentimeter lang ist, mit Batterie, Funkantenne, Mikrocontroller sowie Sensoren für Sauerstoff, Wasserstoff, Kohlendioxid und Temperatur.

Getestet wurde die Kapsel von sechs gesunden Personen: Durch eine halbdurchlässige Membran gelangten die Gase zu den Sensoren. Die Temperatur ließ sich mit einer filigranen Heizwendel kontrollieren. Die Daten sendete die Kapsel via Funkwellen (433 MHz) an ein kleines Empfängergerät außerhalb des Körpers. Alle Kapseln überstanden den zweitägigen Einsatz unbeschadet und könnten nach einer Reinigung abermals verwendet werden. Ein Phase-II-Test für 300 Testpersonen ist derzeit in Vorbereitung. Das in Gründung befindliche Start-up Atmo Biosciences will die Sensorkapsel jetzt zur Serienreife bringen. JAN OLIVER LÖFKEN

OPTIK

Flache Metalinse bündelt sichtbares Licht

Die flache Metalinse kann das volle Spektrum von weißem Licht punktgenau fokussieren. Illustration: Jared Sisler/Harvard SEAS

Extrem flache Linsen gehören derzeit zu den vielversprechendsten Anwendungen von symmetrisch strukturierten Metamaterialien. Durch ihren Einsatz könnten die Kameras in Smartphones oder Drohnen bei hoher Bildqualität noch kleiner werden. Die Arbeitsgruppe um Federico Capasso an der Harvard University in Cambridge entwickelte jetzt sogar erstmals eine flache Metalinse, die nicht nur einzelne Wellenlängen, sondern ein weites Spektrum des sichtbaren Lichts punktgenau fokussieren konnte.

Für ihre Metalinse deponierte die Gruppe winzige Quader aus Titandioxid in dünnen Lagen im Vakuum auf einem durchsichtigen Glasträger. Die Nanoquader – 600 Nanometer hoch und 80 bis 250 Nanometer breit und lang – ordnete sie jeweils paarweise an. Vorausgehende Simulationen der Lichtbrechung an den Nanoquadern lieferten den Bauplan für die filigrane Struktur. Testmessungen zeigten, dass sichtbares Licht über einen Spektralbereich von 470 (blau) bis 670 (rot) Nanometern Wellenlänge einheitlich fokussiert werden konnte. So konnte die Linse Objekte etwa um einen Faktor 50 vergrößert relativ scharf abbilden.

Für technische Anwendungen ist der bisher erreichte Durchmesser der Linse von nur einem Fünftel Millimeter zu gering. Die Herstellung der zum Patent angemeldeten Linsen, die jetzt im Magazin „Nature Nanotechnology“ (DOI: 10.1038/s41565-017-0034-6) vorgestellt wurden, könnte am Ende jedoch günstiger sein als bei optischen Linsen. JAN OLIVER LÖFKEN

gefälschte Kommentare wurden in den USA bei einer öffentlichen Anhörung zur Netzneutralität abgegeben. Schon Monate vor der Entscheidung wies Generalstaatsanwalt Eric Schneiderman die zuständige Behörde FCC darauf hin, dass zahlreiche Eingaben auf gestohlenen Identitäten beruhten. Er forderte, die Entscheidung zu vertagen. Vergeblich: Die FCC fasste trotzdem einen Beschluss, der die Gleichbehandlung von Daten im Internet praktisch abschafft.

MEDIZIN

Genschere bewahrt Hörvermögen

Genetisch bedingter Hörverlust könnte umkehrbar sein. Hoffnung darauf machen Tierversuche von Forschern um Xue Gao vom Howard Hughes Medical Institute (HHMI) in Chevy Chase im US-Bundesstaat Maryland. Wie sie im Fachjournal „Nature“ (DOI: 10.1038/nature25164) schreiben, schalteten sie mit der Genschere CRISPR/Cas bei neugeborenen Mäusen eine mutierte Kopie des Tmc1-Gens aus. Die Mutation lässt unbehandelt die Haarsinneszellen im Innenohr der Mäuse nach und nach absterben.

Die therapierten Nager besaßen acht Wochen später bedeutend mehr Sinneszellen mit Haarbündel-Rezeptoren als ihre nicht behandelten Artgenossen. Dadurch konnten sie leisere ebenso wie lautere Töne besser hören. So konnten sie schon Töne ab 65 dB wahrnehmen, während die nicht therapierten Mäuse erst ab 80 dB reagierten. Das entspricht etwa dem Unterschied zwischen einem leisen Gespräch und der Lautstärke der Müllentsorgung. Zudem erschraken sie bei lauten Tönen von 120 dB, die unbehandelte Nager gar nicht wahrnahmen.

Die Schwierigkeit bei dem Eingriff bestand darin, die nur um ein Basenpaar verschiedene heile Genkopie unbehelligt zu lassen. Um unbeabsichtigte Wirkorte zu vermeiden, minimierten Gao und Kollegen deshalb die Wirkzeit ihres CRISPR-Werkzeugs. Unter anderem verpackten sie es in schnell abbaubare Fetttröpfchen. Die bei vielen Gentherapien etablierten maßgeschneiderten Transportviren hätten eine zu lange Wirkzeit zur Folge gehabt. Die Tröpfchen injizierten die Forscher dann in den mittleren Schneckengang des Innenohrs, der die Haarsinneszellen enthält. Zwar gelang die DNA-Reparatur nur in einem Bruchteil der Zellen. Allerdings schaltete die neue CRISPR-Konstruktion in diesen zu 94 Prozent die mutierte und nur zu sechs Prozent die heile Genkopie aus. VERONIKA SZENTPÉTERY-KESSLER