INTERVIEW
»Legastheniker verarbeiten Laute im Gehirn anders«
TR: Warum wäre es wichtig, einen Frühtest für Legasthenie bei Vorschulkindern zu haben?
JENS BRAUER: Heute erhalten Kinder oft erst nach einigen Schuljahren eine Diagnose, wenn sich der Frust schon angestaut hat. Die Frühförderung ist nicht nur vielversprechender, sie könnte den Kindern die Schulzeit enorm erleichtern.
Wie vielen Kindern könnte eine frühzeitige Diagnose helfen?
Legasthenie betrifft etwa fünf bis sieben Prozent der Bevölkerung in Deutschland, das heißt in rund jeder Grundschulklasse sitzt ein Kind.
Worauf könnte sich ein solcher Frühtest stützen?
Wir haben sehr eindrückliche Daten zur phonologischen Verarbeitung von Sprachlauten. Wenn die problematisch ist, spiegelt sich das im Erlernen des Schreibens und Lesens wider. Daher haben wir versucht, diese phonologischen Defizite zu dokumentieren: Wir haben Hirnfunktionen übers EEG (Elektroenzephalogramm) und die Hirnanatomie per MRT (Magnetresonanztomografie) kontrolliert und über eine Speichelprobe die Gene analysiert.
Legasthenie kann also vererbt werden?
Es ist schon seit Langem bekannt, dass es eine genetische Disposition und somit eine familiäre Häufung gibt. Verantwortlich sind mehrere Gene auf verschiedenen Chromosomen.
Weshalb reicht eine Genanalyse für eine Diagnose nicht aus?
Die Beteiligung der Gene ist komplex und für eine Vorhersage zu ungenau. Aus dem Grund haben wir uns der Verarbeitung sprachlicher Information zugewandt. Es lässt sich in der Tat mithilfe des MRT hirnanatomisch feststellen, dass Kinder im Vorschulalter bereits Auffälligkeiten zeigen, wenn sie ein familiäres Risiko tragen. Das zeigt sich etwa in der Entwicklung der Großhirnrinde. Diese ist in den Hirnregionen dünner, die für die Verarbeitung schriftlicher Informationen wichtig sind.
Wäre der Frühtest für alle Vorschulkinder sinnvoll?
Durchaus, aber auf jeden Fall für Kinder mit familiär bedingtem Legasthenie-Risiko. Sie alle im MRT-Scanner zu untersuchen, wäre aber zu aufwendig. Deshalb haben wir parallel mit dem einfacher handhabbaren EEG analysiert, wie sprachrelevante Informationen im Gehirn verarbeitet werden. Hier zeigen sich Muster beim Erkennen feiner sprachlicher Unterschiede. Die Unterscheidung gelingt Kindern, die Probleme beim Schreiben und Lesen haben, schlechter. Aus unseren Studien wissen wir, dass sich das bereits im Vorschulalter erkennen lässt.
Wann könnte ein Test zur Früherkennung verfügbar sein?
Das hängt von der Finanzierung unserer Forschung ab. Auf jeden Fall wird es noch einige Zeit dauern. i. wünnenberg