MIT Technology Review 4/2018
S. 66
TR Mondo

INDIEN

Analphabetinnen werden zu Solaringenieurinnen

Foto: Dieter Telemans/ Panos Pictures/ Visum

Sanjit „Bunker“ Roy gründete 1972 das „Barefoot College“ im indischen Tilonia im Bundesstaat Rajasthan. Zunächst unterstützten die Programme die arme Landbevölkerung bei der Wasserversorgung. Die Dörfler lernten, ihre Wasserpumpen selbst zu warten. Inzwischen werden die Frauen hauptsächlich zu Solartechnikerinnen ausgebildet.

Technology Review: Sie gelten als Erfinder der „Solar Mamas“. Was genau verbirgt sich dahinter?

Sanjit „Bunker“ Roy: Dieses Projekt des Barefoot College richtet sich an ältere Frauen aus armen Gemeinschaften auf dem Land, in denen es keinen elektrischen Strom gibt. Sie leben von weniger als einem Dollar pro Tag. Wir holen sie zu uns nach Tilonia und bilden sie sechs Monate lang zu Solaringenieurinnen aus. Anschließend kehren sie in ihre Dörfer zurück, bauen dort Solaranlagen und Laternen auf und bringen so Licht in ihre Gemeinschaft.

Welche Frauen kommen zu Ihnen?

Unser College besuchen völlig unterschiedliche Frauen aus allen möglichen Ländern. Eines jedoch verbindet sie: Sie können alle nicht oder nur sehr wenig lesen und schreiben. Sie haben keine formale Ausbildung erhalten. Sie gelten zwar als „ungebildet“, aber das sind sie nicht. Sie wissen viel über das Wetter, Saatkörner, den Boden und das Leben auf dem Land. Es ist ein riesiges Potenzial, das unsere Gesellschaft weder nutzt noch zu schätzen weiß.

Warum übernehmen Sie diese Aufgabe anstelle offizieller Stellen?

Regierungen sind nicht innovativ genug für solch verrückte Ideen. Erst wenn ein Projekt sich bewährt hat, nehmen sie Vorhaben dieser Art ernst. Dann kann man versuchen, ihre Unterstützung zu gewinnen, was uns gelungen ist. Inzwischen übernimmt die indische Regierung die Reisekosten und das sechsmonatige Training der Mamas bei uns.

Am College von Sanjit „Bunker“ Roy (o.) werden Frauen zu Solartechnikerinnen ausgebildet. Foto: Remo Casilli/ Ddp Images

Wie groß ist Ihr Projekt?

Wir haben vor 17 Jahren mit den Solar Mamas angefangen. Inzwischen gibt es rund 2300 ausgebildete Frauen in 96 Ländern, zum Beispiel in Afghanistan, Syrien und Afrika. Sie haben rund 560000 Menschen Licht in ihre Hütten gebracht und mehr als 1100 Micro-Grids installiert, die täglich knapp 1,4 Gigawatt Solarenergie generieren.

Wie sieht das gemeinsame Training von Frauen verschiedener Nationalitäten aus, die alle kaum lesen und schreiben können?

Wir arbeiten mit Zeichensprache. Das funktioniert. Nach sechs Monaten Training können unsere Frauen mehr als Uni-Absolventen nach fünf Jahren.

Warum?

Praxis. Tägliche Praxis. Bei uns gibt es keine Theorie. Die Mamas lernen jeden Tag, eine Solaranlage aufzubauen, sie zu warten und bei Störungen zu reparieren.

Warum bilden Sie nur Frauen aus?

Männer sind ungeduldig und rastlos. Sie wollen in erster Linie ein Zertifikat. Doch sobald sie das besitzen, kehren sie nicht mehr in ihre Dörfer zurück. Sie suchen sich einen Job in der Stadt.

Und Frauen sind anders?

Ja. Ältere Frauen sind in ihrem Dorf verwurzelt. Sie kehren zurück, um zu helfen. Aber die Solar Mamas bewirken noch viel mehr: Die Elektrifizierung durch erneuerbare Energien führt zu einer Entwicklung der Lebensverhältnisse in den Dörfern. Zusätzlich kommt es zu einer neuen Balance zwischen den Geschlechtern. Diese Frauen können Dinge, die sonst niemand im Dorf kann. Ihre Männer respektieren sie, und den Kindern dienen sie als Vorbild.

INTERVIEW: Michael Radunski