Interview
„Menschen basteln sich ihren Glauben zusammen“
TR: Sie haben den Einfluss des Internets auf religiöses Verhalten untersucht. Was waren Ihre Ergebnisse? Je stärker die Internetnutzung, desto weniger Gebete, Gottesdienstbesuche und persönliche Bedeutung der Religion. Außerdem fördert das Netz eine Art „Herumbasteln“ mit verschiedenen religiösen Überzeugungen und Praktiken – selbst wenn diese im Widerspruch zu den traditionellen Lehrmeinungen stehen. Die Menschen können mehrere Religionen gleichzeitig praktizieren oder sich Glaubenssätze herauspicken und sich damit ihren eigenen Glauben maßschneidern. Das Netz hat allerdings keinen Einfluss darauf, für wie spirituell sich die Leute einschätzen.
Woher wissen Sie, dass das Netz wirklich die kausale Ursache dafür ist?
Das ist natürlich immer schwer zu sagen, aber es scheint Hand in Hand zu gehen. Ich vergleiche Nutzer sozialer Medien mit Nichtnutzern. Außerdem nutze ich Daten aus drei verschiedenen Befragungen für eine Langzeitstudie. Dabei zeigte sich, dass Nutzer sozialer Medien zu einem späteren Zeitpunkt mit größerer Wahrscheinlichkeit dieses Rosinenpicken zeigen als Nicht- oder Wenignutzer.
Woran mag das liegen?
Möglicherweise daran, dass Digitaltechnik es Individuen ermöglicht, sich von großen sozialen Institutionen wie der Religion zu entfernen. Man braucht nicht mehr in die örtliche Kirche oder Synagoge zu gehen, sondern kann Dinge anderswo einfacher nachschlagen.
Wie passt das zu dem Eindruck, dass sich religiöser Fundamentalismus – sowohl auf christlicher als auch auf islamischer Seite – in den letzten 10 bis 15 Jahren verstärkt hat?
Das mag stimmen, aber es dürfte eine Minderheit sein. Es gibt Leute, die sind empfänglicher für die Radikalisierung und Verstärkung ihres Glaubens, weil sie sich nur mit ähnlich denkenden Menschen zusammentun. Aber im Großen und Ganzen sind die Leute heute einer größeren Vielfalt an Ideen ausgesetzt.
Den Effekt einer Filterblase oder einer Echokammer bestätigt Ihre Forschung also nicht?
Ja, zumindest im Moment.
Wie geht es weiter mit der Religion?
Ich sehe keine geradlinige Säkularisation, die jede Religion und jeden Glauben hinter sich lässt. Religion wird weiterleben, aber es wird einen Effekt auf religiöse Institutionen geben. INTERVIEW: GREGOR HONSEL