MIT Technology Review 5/2018
S. 118
Kolumne
Aufmacherbild
Illustration: Mario Wagner

Der Futurist

Hallo, Sonnenschein

Was wäre, wenn wir über das Wetter abstimmen könnten?

Dieses Land hat einfach zu wenig Wind. Darum weiß Arne ganz genau, welche Wetterkomponenten bei der nächsten Wahl seine Stimme bekommen: klarer Himmel, 18 Grad, 5 Beaufort aus Südost.

Der leidenschaftliche Kitesurfer hat sich der Kampagne „Rückenwind für Deutschland“ angeschlossen, in der Segelschiffer, Ökologen und Großstadtbewohner für feste Zeiten mit maßvollen Windstärken trommeln. Während Arne von Wind auf Bestellung träumt, weil oft genug der Kite-Ausflug wegen unangekündigter Flauten zur Enttäuschung wurde, ruft es aus den Metropolen, allen voran Rhein-Ruhr und dem Stuttgarter Kessel: „Wir ersticken.“ Dass ihre bunten Wahlkampfspektakel mit Drachen und Windsurfern größtenteils von einem Energiekonzern bezahlt werden, der viele Windkraftanlagen betreibt, stört sie nicht.

Aber auch die Gegenbewegung formierte sich, insbesondere unter Lastwagenfahrern, Radfahrern, bei Verkehrsbetrieben und Forstwirten. „Niemand braucht starken Wind“, argumentierten sie. Seit dem Start des Human Rain Projects ist das Wetter vom Small Talk zum Teil der politischen Debatte geworden. Das multinationale Programm ermöglicht dank einer Flotte von Sonnenlicht lenkenden Satelliten, Strömungswandlern in den Weltmeeren und Wolkenzerstäubern eine großflächige, zuverlässige Wetterkontrolle. Von dem ursprünglichen Gedanken, ausgetrockneten Entwicklungsländern Regen zu bringen, ist nur der poetische Name geblieben. Angesichts der Kosten des Billionen-Projekts verschönern sich vor allem reiche Länder ihre Witterung. In Europa hat die EU-Kommission versprochen, dass alle Bürger künftig demokratisch über das Wetter abstimmen dürfen. Und damit begann der Kampf mit Fronten quer durch alle bisherigen politischen Spektren.

Eine breite Schönwetter-Bewegung sprach sich für Terrassenwetter bei Sonnenschein und lauschigen 23 Grad aus. Vornehmlich Männer hielten dagegen und spotteten über die „Frostbeulen“, weil sie selbst nicht schwitzen wollten. 18 Grad seien doch viel besser. Das Bündnis „Frau Holle“ fürchtete um das Kulturgut des „deutschen Winters“ und wollte für Wintermärkte, Skifahren und Schlittschuhlaufen eine Quote von Eis- und Schneetagen durchsetzen. Einig war man sich nur in einem – jedenfalls fast: Extremwetterlagen wie Orkane, sibirische Kälte, Sturzregen und Hagel gehörten abgeschafft. Nur Extremisten der evangelikalen Gruppe Opus Petri betrachteten das „demokratischste Wetter aller Zeiten“ als unzulässigen Eingriff in Gottes Schöpfung. Sie verübten Sprengstoffanschläge auf Stationen des Human Rain Projects.

Während die Debatte tobte, zogen in Brüssel fast unbemerkt Lobbyisten die Strippen: Landwirtschaft, Tourismus und Energiekonzerne fürchteten um Produktion und Märkte. Die Deutsche Bahn wollte unbedingt schlechte Presse wegen vereister Weichen, umgestürzter Bäume, defekter Heizungen oder Klimaanlagen vermeiden. Technokraten arbeiteten Quoten für Niederschläge, Sonnenscheinstunden, Wind und Temperaturkontingente aus. Zeiten wurden vergeben, Regelungen festgeschrieben. Politiker zitierten Studien von Biologen und Medizinern, die untermauern sollten, warum der nun ausgehandelte Wetter-Mix mit Sicherheit der beste für alle sei.

Dennoch hat die EU-Kommission Wort gehalten. Arne liest, was auf der lang erwarteten Wahlbenachrichtigung steht. Dann blickt er ausdruckslos aus dem Fenster. Er ist mit 400 Millionen anderen Europäern dazu aufgerufen, über das Wetter in der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag zwischen zwei und vier Uhr morgens abzustimmen.

Draußen regnet es. ANTON WESTE