MIT Technology Review 5/2018
S. 24
Am Markt

AUSPROBIERT

Ein Dschungel für Karlsruhe

Wie sehen Frösche, Kaimane oder Greifvögel ihre Welt? Eine VR-Installation gibt Antwort.

Ich brauche etwas, bis ich den Pfeilgiftfrosch im dichten Busch entdeckt habe. Über ihm pulsiert ein Kreis. Ich visiere ihn an mit einer Art Laserstrahl, und plötzlich schießen die Pflanzen in die Höhe. Auch der Frosch wächst, bis er mich auf Augenhöhe anstarrt, kaum eine Armlänge entfernt. Wie er wohl selbst die Sache sieht? Ich drücke einen weiteren Knopf auf dem Controller. Die Grüntöne weichen grellen Rot-Blau-Kontrasten, ähnlich wie beim Falschfarbenbild einer Wärmekamera. So also sieht der Dschungel aus Froschperspektive aus. „Wir haben die Wahrnehmungsfähigkeit der Tiere übersetzt auf die menschlichen Sinne“, sagt Diana Schniedermeier, als ich das Headset abnehme und mich wieder in einem gläsernen Büro in Berlin-Kreuzberg befinde.

Schniedermeier ist Produzentin bei der Interactive Media Foundation, die nichtkommerzielle VR-Projekte umsetzt – etwa einen virtuellen Flug über das Ulm des späten 19. Jahrhunderts. Das jüngste Vorhaben war die virtuelle Abbildung von 400 Hektar Regenwald im brasilianischen Naturschutzgebiet Tumucumaque – aus Sicht seiner tierischen Bewohner. Und so kann ich mit einer Harpyie durch Äste und Lianen kreisen oder mit einem Kaiman durch den Fluss schwimmen. Gehe ich in die Hocke, sehe ich die Unterwasserwelt, aufrecht blicke ich knapp über die Wasseroberfläche.

3D-Klänge und Vorlagen lieferte eine Arte-Dokumentation über das Amazonasdelta. 80 Pflanzenarten wurden per Hand modelliert und dann von einem Algorithmus zu insgesamt 7500 individuellen Gewächsen variiert. Experten vom Museum für Naturkunde Berlin achteten darauf, dass alles stimmte. Damit der virtuelle Dschungel trotz Full-HD-Auflösung nicht ruckelt, wurden die 750 Texturen nicht fotorealistisch gestaltet, sondern im Stile alter Forschungsaquarelle.

Auf Headsets von Vive läuft das Ganze in der Tat so flüssig, dass keinerlei Übelkeit aufkommt. Allerdings ist die virtuelle Expedition auch eine ziemlich passive Angelegenheit. Ich kann zwar Kaiman und Greifvogel auf ihren Wegen begleiten, aber mich nicht selbst frei durch den Dschungel bewegen. Die einzige Interaktionsmöglichkeit ist das Umschalten auf die Farbwelt des Frosches.

In künftigen Versionen sollen sich die Tiere auch steuern lassen. Auf andere Gaming-Elemente haben die Macher bewusst verzichtet, damit sich auch Menschen ohne VR-Erfahrung sofort zurechtfinden. Niemand braucht also Angst zu haben, bei Episoden am unteren Ende der Nahrungskette virtuell gefressen zu werden.

Seit dem 6. April ist die Installation im Zentrum für Kunst und Medien in Karlsruhe zu sehen. Drei Headsets hängen in einem 400 Quadratmeter großen Raum von der Decke. So hat jeder Besucher genug Auslauf während seines 15-minütigen Dschungel-Triathlons. Später soll die VR-Welt auch für private Nutzer über den Steam-Shop abrufbar sein. Bis dahin wollen die Macher noch zwei weitere Tiere ergänzen: Goliath-Vogelspinnen und Vampir-Fledermäuse. „All diese Tiere haben ihre eigene Wahrnehmung“, sagt Schniedermeier. Der Kaiman etwa hat einen Rundumblick, die Vogelspinne sieht trotz ihrer acht Augen eher schlecht und orientiert sich stattdessen mit Tasthaaren. Diese Sinneseindrücke sollen – wie beim Farbspektrum des Frosches – nach und nach ebenfalls in die visuelle Wahrnehmung des Menschen übersetzt werden. Wie das genau funktionieren soll, ist noch offen. GREGOR HONSEL

Inside Tumucumaque, bis 27. Mai 2018 im ZKM Karlsruhe; Eintritt: Erwachsene 4 Euro, Kinder 1 Euro; www.zkm.de