MIT Technology Review 9/2018
S. 62
TR Mondo

Russland

Pflügen statt schürfen

Herr über eine eigene Kryptowährung: der russische Bauer Mikhail Shlyapnikov. Foto: Mikhail Japaridze/ Itar-Tass/ Imago

Als der Rubel im Jahr 2014 während der Ukraine-Krise innerhalb eines Tages um ganze 19 Prozent fiel, hatte Mikhail Shlyapnikov die Nase voll. Er schuf sein eigenes Geld – den „Kolion“. Namensgeber war das russische Neun-Seelen-Dorf Kolionovo. Hierher war Shlyap-nikov 2007 aus dem 125 Kilometer entfernten Moskau gezogen.

Um Währungsschwankungen zu vermeiden, verknüpfte er das Papiergeld fest mit Naturalien: Ein Kolion sollte immer dem Wert von zehn Kilogramm Kartoffeln entsprechen, 50 Kolion dem Wert einer Gans. Shlyapnikov sagt, seine Idee habe funktioniert: Während der Rubel fluktuierte, sei der Kolion stabil geblieben. Das zog viel Interesse von Journalisten und Ökonomen auf sich, allerdings auch von den Behörden. Die russische Zentralbank, das Finanzministerium, die Steuerbehörde und Vertreter der Regierung wurden bei dem Bauern vorstellig. Die Folge: Ein russisches Gericht verbot die Währung im Mai 2015 mit der Begründung, dass sie das russische Finanzsystem bedrohe.

Kein Grund für Shlyapnikov zurückzustecken. Gelegenheit bot ihm das russische Bankenwesen genug: Als er wenig später einen Kredit für ein neues Gewächshaus haben wollte, verlangten die russischen Banken horrende 12 bis 28 Prozent Zinsen. Mit dem Aufkommen von Kryptowährungen sah Shlyapnikov aber eine neue Chance, autark zu werden. So baute er im August 2016 auf Basis der Kryptowährung Emercoin eine Plattform auf, um Privatinvestoren aus aller Welt Anteile seiner Farm zu verkaufen. Die Dividende zahlte er in Bitcoins oder Emercoins aus.

Auch Krypto-Futures verkaufe er über Emercoin, erzählt Shlyapnikov. Er habe einen Schnaps gebrannt und ihn „im russischen Mondschein“ in Eichenfässer gefüllt. Nun soll er zwölf Jahre reifen. Käufer können Zertifikate erwerben, sie in der Blockchain hinterlegen und damit auf eine Wertsteigerung spekulieren. Nach einem Monat meldete Shlyapnikov in einem Blog, fast alle angebotenen Anteile seien verkauft.

Das eingenommene Geld konnte er in modernere Geräte investieren, ohne Kreditzinsen zahlen zu müssen. Das Projekt weckte bald das Interesse umliegender Farmen und Betriebe, sodass er eine größere Vielfalt an Produkten anbieten konnte. Da er sie direkt an die Kunden verkaufte, brauchte er auch keine Marge an Zwischenhändler abzutreten. Insgesamt halbierte er auf diese Weise seine Produktionskosten.

Und Shlyapnikovs Traum von einem autarken „Ecosystema Kolionovo“ ging noch weiter. Er belebte seinen Kolion wieder – diesmal in digitaler Form. Auf der Kryptoplattform Waves baute er sich seine eigene Kryptowährung, bestehend aus einer Million digitaler Tokens. Einerseits sollen sie zum Bezahlen innerhalb des Ökosystems dienen, das Shlyapnikov durch hartnäckige Überzeugungsarbeit auf rund hundert Betriebe ausgeweitet hatte. Andererseits dazu, weitere Gelder zu beschaffen. Im April 2017 startete der Russe deshalb ein ICO (Initial Coin Offering) und verkaufte die Kolions gegen andere Kryptowährungen wie Bitcoins und Ether. Mit großem Erfolg: Coins im Wert von 500000 Euro gingen innerhalb eines Monats über den digitalen Tresen.

Shlyapnikov erklärt den Erfolg auch damit, dass der Kolion im Gegensatz zu vielen anderen sogenannten Altcoins einen realen Gegenwert gehabt habe: das Vermögen des Ökosystems Kolionovo, insgesamt etwa 30 Millionen Rubel (über 400000 Euro).

Nachdem die Hälfte des Kolion-Bestands verkauft war, wurde die andere Hälfte zur Spekulation an den Kryptohandelsbörsen freigegeben. Zwischenzeitlich lag der Wert bei fast acht Euro, momentan liegt er bei etwa 70 Cent. Shlyapnikov versteht den Kolion aber nicht nur als Spekulationsobjekt, sondern nutzt ihn auch als Gutschein für echte Lebensmittel und Dienstleistungen aus Kolionovo. Wer im Besitz von Kolions ist, bekommt Rabatt auf Eier, Milch oder den nächsten Angeltrip. Zudem lassen sich die Kolions nicht digital schürfen, sondern nur kaufen oder durch Feldarbeit „erpflügen“.

Shlyapnikov sagt, von seinem Geschäftsmodell könne jeder Hersteller nur träumen: Seine Produkte seien auf Jahre im Voraus bezahlt, selbst wenn sie noch gar nicht fertiggestellt seien. Mittlerweile ist das Projekt über die Grenzen Russlands hinweg bekannt. Shlyapnikov hat mehrere Angebote bekommen, das Konzept zum Franchise zu machen. Doch auf eine weitere Expansion habe er schlichtweg keine Lust, weil sie nur unangenehme Verpflichtungen mit sich bringe.

Die russischen Behörden haben sich noch nicht wieder gemeldet – die gesetzlichen Bestimmungen für Kryptowährungen sind noch nicht so weit. Ein entsprechendes Gesetz wird erst im Herbst erwartet. Es soll Kryptowährungen als Eigentum ansehen, nicht als Währung: Der Rubel soll keine Konkurrenz bekommen. Die Konflikte zwischen Shlyapnikov und dem russischen Staat könnten also bald in die nächste Runde gehen.

GREGOR HEPPEL

Schweden

Doktor App wächst rasant

Die Online-Portale versprechen einen schnellen Kontakt zu einem Arzt.

Die Digitalisierung Schwedens hat mit Macht das Gesundheitswesen erfasst. Arztkonsultationen über Smartphone und Tablet nehmen derart rasant zu, dass die Gesundheitsbehörden damit überfordert sind, Kosten und Wildwuchs einzudämmen.

Dank der privaten Portale Kry, Min Doktor und Medicoo stieg die Zahl der digitalen Arztkontakte von 13000 im April 2017 auf 35000 im April 2018. 90 Prozent der Online-Patienten sind unter 50 Jahre alt. 43 Prozent der Nutzer stammen aus dem Großraum Stockholm, obwohl die Hauptstadtbewohner nur 23 Prozent der Bevölkerung ausmachen.

Per Internet konsultiert werden können nicht nur Allgemeinmediziner, sondern auch Internisten, HNO-, Haut- und Kinderärzte. Seit März bietet Kry sogar eine Online-Verhaltenstherapie für depressive Patienten an. Viele Ärzte, die sich per App kontaktieren lassen, arbeiten in staatlichen Krankenhäusern und verdienen sich online ein Zubrot – mitunter sogar während der Dienstzeit, wie die Tageszeitung „Sydsvenskan“ berichtete.

Losgetreten hat den Boom die Regionalverwaltung in Jönköping am Südende des Vättersees. Sie beschloss 2016, für Videovisiten genauso zu zahlen wie für persönliche Sprechstunden in traditionellen Gesundheitszentren. Damit halbierte sich zugleich die Selbstbeteiligung der Patienten auf umgerechnet 25 Euro pro Online-Arztkontakt.

Zwei privat betriebene, aber staatlich finanzierte Behandlungszentren in Jönköping schlossen daraufhin Verträge mit den beiden führenden Arztportalen Kry und Min Doktor, sodass die Abrechnungen für Online-Arztberatungen aus ganz Schweden seitdem ausschließlich über Jönköping laufen. Da das schwedische Gesundheitssystem aber regional organisiert ist, holt sich die Behörde in Jönköping die Kosten aus den Heimatgemeinden der App-Nutzer zurück.

Die Gemeinden geben dadurch immer mehr von ihrem eigenen Budget nach Jönköping ab. Diese Gelder fehlen den örtlichen Behandlungszentren für Investitionen oder bürgernahe Telefon- und Onlineservices. Oder auch, um in den wenig bewohnten Gebieten des Nordens Gesundheitsräume in Supermärkten vorzuhalten.

Wieso aber sind die Online-Portale bei der schwedischen Bevölkerung derart beliebt? Ein Grund sind die langen Wartezeiten bei den traditionellen Behandlungszentren, die bei nicht akuten Gesundheitsproblemen schon mal mehrere Wochen betragen können. Kry und Min Doktor versprechen dagegen den schnellen Kontakt zu einem Arzt innerhalb von zehn Minuten.

Trotzdem könnte dieser prompte Service der schwedischen Gesundheitsinfrastruktur auch Nachteile bringen. Denn die Daten aus den Videokonsultationen landen ebenfalls in Jönköping und stehen nicht schnell genug zur Verfügung, wenn der Patient doch noch vor Ort das zuständige Behandlungszentrum oder Krankenhaus aufsuchen muss. Obendrein sollen die App-Ärzte einem Bericht der Regionalregierung in Jönköping zufolge Infektionen diagnostiziert und Antibiotika verschrieben haben, obwohl das ohne körperliche Untersuchung gar nicht erlaubt ist.

Hanns-J. Neubert