MIT Technology Review 1/2019
S. 98
Kolumne
Aufmacherbild
Illustration: Mario Wagner

Der Futurist

The Final Countdown

Was wäre, wenn wir unser Todesdatum errechnen könnten?

Und?“ Vera stand vor ihm. David Demain vergrub das Gesicht in den Händen, seine Schultern zuckten.

„Oh nein.“ Sie nahm ihn in den Arm.

„Sieben Jahre, Vera! Es ist so gemein!“

Sie schwieg eine Weile. Dann sagte sie: „Ich glaube, es ist das Beste…“

Er blickte auf, mit Tränen in den Augen, und nickte. „Es tut mir leid!“

„Du kannst ja nichts dafür, David.“

„Und dann hat sie gesagt, es wäre das Beste, wenn wir uns trennen! Sie hat nämlich noch 42 Jahre“, sagte David. Er lachte. In der Hand hielt er ein Sektglas, in der anderen eine Zigarre. Andi nickte. Er wirkte niedergeschlagen. Sie waren letzte Woche zusammen zum Arzt gegangen, um den Test zu machen.

„Auf den Horvath-Test!“, rief David. „Auf die Freiheit!“ Dann stieß er klirrend mit Andi an. Der trank sein Glas in einem Zug aus, dann steckte er sich eine Zigarette an.

„Wie viele Jahre hast du wirklich?“, fragte Andi.

„Satte 37! Und jedes einzelne davon werde ich froh sein, die dumme Kuh los zu sein. Hey, seit wann rauchst du eigentlich wieder?“

Andi nahm einen tiefen Zug aus der Zigarette und blies den Rauch aus. „Seitdem ich weiß, dass ich nur noch vier habe.“

Der Horvath-Test krempelte die Gesellschaft völlig um. Ein bisschen Speichel auf ein Teststäbchen, und schon konnte man das biologische Alter des Körpers ermitteln. Sogenannte epigenetische Veränderungen am Erbgut verrieten es, und aus der Differenz zum chronologischen Alter ergab sich die Lebenserwartung. Simpel, unerbittlich, unwiderlegbar. Wer sein Todesdatum nicht wissen wollte, bekam irgendwann keinen Job und keine Versicherung mehr. Manche verloren jeglichen Lebenswillen. Andere sahen es als Befreiung. Carpe diem wurde ihr Motto, sie kündigten ihre verhassten Jobs, beendeten ihre Ehen, taten all die Dinge, zu denen ihnen der Mut oder die Zeit gefehlt hatte.

David klickte sich durch die Profile bei Parship. Die Partnervermittlung hatte die Angabe der Lebenserwartung zur Zugangsbedingung gemacht. Wer unter fünf Jahren hatte, brauchte nichts zu zahlen. So großzügig war man zu den Subfivers.

Sein Telefon klingelte. Es war Andi. Im Hintergrund hörte er lautes Stimmengewirr und die Klänge des alten 80er-Hits „The Final Countdown“.

„Heeeey, dude!“ Andi lallte glücklich.

David grinste. „Wo bist du?“

„In Nevada. Beim Burning Man. David! Nur Subfivers. Megageile Stimmung.“

Die Subs waren berüchtigt für ihre Extrempartys. So mancher war dabei auch schon vor seinem errechneten Todestag gestorben.

„Klingt gut.“

„David. Ich so ’ne komische Mail bekommen. Von der … Behörde. Ich check’s nicht. Bin einfach zu voll.“

„Okay, schick mal.“

Er las die Mail quer:

„… bedauerlicher Fehler … Verwechslung … sind froh, Ihnen mitteilen zu können … noch 34 Jahre Lebenszeit …“

Andis Horvath-Test war verwechselt worden. Er hatte noch viele Jahre vor sich. Es war eine gute Nachricht für ihn.

Dann poppte in seinem Postfach eine Mail auf. Absender: Gesundheitsbehörde. Betreff: „Verwechslung Ihres Horvath-Tests“. Mit einem Kloß im Hals öffnete er die Mail.

Eine Stunde saß David Demain einfach nur da. Danach startete er auf YouTube die Hymne der Subfivers: „The Final Countdown“.

Schließlich schrieb er Andi eine Nachricht: „Komme nach Nevada. Ab jetzt wird gefeiert!“ Jens Lubbadeh