MIT Technology Review 1/2019
S. 96
Fundamente
Jubiläum

Mit Mach 2 ins Museum

Vor fünfzig Jahren ging das erste Überschall-Verkehrsflugzeug in die Luft. Und es war nicht die Concorde.

Auf den ersten Blick ähneln sich Tupolew Tu 144 und Concorde wie ein Ei dem anderen. Trotzdem haben die beiden Überschall-Verkehrsflugzeuge einen völlig unterschiedlichen Werdegang: Die Karriere der Concorde endete bekanntlich im Jahr 2000 mit einem Crash. Die der Tupolew begann mit einem.

1962 beschlossen Frankreich und England, ihre bisher getrennten Entwicklungen eines Überschall-Passagierflugzeugs zusammenzulegen. Ein Jahr später wollte auch die Sowjetunion eine solche Maschine haben – und zwar früher als der Westen. Tatsächlich gelang am letzten Tag des Jahres 1968 der Erstflug – gut zwei Monate vor der Concorde. Beim ersten Flug mit doppelter Schallgeschwindigkeit („Mach 2“) im Mai 1970 war die Tu 144 der Concorde gar ein halbes Jahr voraus. Solche Geschwindigkeiten waren bis dato Militärjets vorbehalten.

Optisch war sie der Concorde irritierend ähnlich, und den Vorwurf der Industriespionage konnte die Sowjetunion nie entkräften. So kam die Tu 144 zu ihrem Spitznamen „Concordski“. Dabei hatten die Tupolew-Ingenieure durchaus eigene überzeugende Lösungen gefunden – zum Beispiel ausklappbare „Entenflügel“ am Bug, welche die Manövrierbarkeit bei niedrigen Geschwindigkeiten verbesserten. Auf diesen Einfall waren sogar die Concorde-Entwickler neidisch, wie einer von ihnen später in einem Fernsehinterview zugab.

Die eilige Entwicklung hatte allerdings einen hohen Preis. Schon 1970 stürzte eine umgebaute Mig 21 ab, mit der die Aerodynamik der Tragflächen studiert werden sollte. Doch das größte Desaster geschah am 3. Juni 1973 auf der Luftfahrtshow in Le Bourget, wo sich Concorde und Tupolew dem Publikum präsentierten. Die Concorde startete zuerst zu einer relativ unspektakulären Flugrunde. Danach zeigt die Tupolew ein deutlich ehrgeizigeres Programm. Auf zeitgenössischen Aufnahmen fällt schon mit bloßem Auge ein deutlich steilerer Abflugwinkel auf. Aus bis heute ungeklärter Ursache geriet die Tu 144 schließlich in einen Sturzflug. Beim Abfangen brach sie auseinander und explodierte. Die sechs Besatzungsmitglieder sowie acht Menschen am Boden starben.

Die ausklappbaren „Entenflügel“ am Bug der Tu 144 sorgen für eine bessere Manövrierbarkeit im Langsamflug. Foto: Hugh W. Cowin Aviation Collection/Mary Evans/Interfoto
Sowohl Concorde als auch Tupolev haben eine schwenkbare Nase, damit die Piloten bei den extrem steilen Anstellwinkeln beim Anflug die Landebahn sehen können. Foto: Reuters

Aber auch ohne dieses Drama hätte sie nie richtig abgehoben. Zu groß waren die Schwächen der Tu 144. Vor allem die Triebwerke waren überfordert. Sie mussten im Überschalltempo ständig mit Nachbrenner laufen, was den Spritverbrauch erhöhte und die Reichweite entsprechend senkte. Je nach Nutzlast betrug diese rund 3000 bis 6000 Kilometer. Deshalb konnte die Tu 144 immer nur mit maximaler Nutzlast oder mit maximaler Reichweite fliegen, nie beides gleichzeitig.

Für einen Langstrecken-Personenverkehr war das extrem unpraktisch. Statt der geplanten 75 Maschinen wurden lediglich 15 fertiggestellt. Ab 1975 übernahmen sie zunächst nur Post- und Frachtflüge, erst 1977 folgten Passagierflüge auf der gut 3000 Kilometer langen Strecke von Moskau nach Alma-Ata. Sieben Monate später kamen bei einer Bruchlandung zwei Flugingenieure ums Leben. Daraufhin wurde der Linienbetrieb nach nur 55 Passagierflügen wieder eingestellt.

Eine späte Rehabilitierung erfuhr die Sowjet-Technik ausgerechnet vom früheren Klassenfeind. Die Nasa rüstete Ende der 90er eine Tu 144 mit neuen Triebwerken aus, um Testflüge für ein künftiges eigenes Überschallflugzeug zu unternehmen. Dabei erzielte die Tupolew Flugleistungen, die der Concorde durchaus ebenbürtig waren. Einträchtig nebeneinander stehen beide Maschinen heute im Technikmuseum Sinsheim, wo die einzige Tu 144 außerhalb Russlands zu sehen ist. GREGOR HONSEL