![Aufmacherbild](https://heise.cloudimg.io/width/900/q65.png-lossy-65.webp-lossy-65.foil1/_www-heise-de_/select/tr/2019/4/1554639094580469/contentimages/image-1553090575982591.jpg)
Was macht ein Industriekletterer?
Sie hängen im Seil und arbeiten in schwindelerregenden Höhen. Das ist nicht ungefährlich.
Thomas Lillie schaut auf Menschen, die so klein erscheinen wie Spielzeugfiguren. Der 47-Jährige blickt in die Tiefe – vom 260 Meter hohen Dach der Commerzbank in Frankfurt. Dort montiert er ein riesiges Werbebanner.
Der Chef des Münchner Unternehmens ICS Vertical ist einer von schätzungsweise 3500 bis 4000 Höhenarbeitern in Deutschland. Sie arbeiten dort, wo Gerüste, Hebebühnen und Kräne nicht einsetzbar oder zu teuer sind. Industriekletterer reparieren Windräder und Mobilfunkmasten, installieren Blitzableiter an Kirchtürmen, klettern an Fassaden hoch, bringen Licht und Lautsprecher in Festhallen an und beschneiden Bäume. Bis Windstärke 6 hängen sie bei jedem Wetter im Seil.
Im Gegensatz zu anderen Berufsgruppen, die in großen Höhen arbeiten, wie etwa Dachdecker, ist das Seil beim Industrieklettern keine Sicherung für den Notfall, sondern das Arbeitsmittel, ohne das nichts geht.
Der Fach- und Interessenverband für seilunterstützte Arbeitstechniken (Fisat) zertifiziert Mitgliedsbetriebe, die Grund- und Fortbildungskurse für Industriekletterer anbieten. Ob Elektriker, Maler, Schweißer oder Ingenieur: Wer mindestens 18 Jahre alt ist, kann die drei Kletter- und Sicherheitstechnikkurse absolvieren, die jeweils aufeinander aufbauen.
Thomas Lillie hat mehr als 20 Jahre Erfahrung. „Ich habe mein Hobby mit dem Beruf verbunden“, sagt der drahtige Mann. Der passionierte Alpinist hat sich sein Bauingenieurstudium durch Höhenarbeiten finanziert. Heute leitet er eine weltweit agierende Firma mit zehn festen und rund 15 freien Mitarbeitern. Damit ist er jedoch eine Ausnahme. Die meisten in der Branche arbeiten als Einzelkämpfer. Zwischen 45 und 75 Euro die Stunde wird dem Kunden üblicherweise berechnet, bei besonders schwierigen Aufträgen auch deutlich mehr.
Gemessen an der körperlichen Belastung ist die Bezahlung aber immer noch nicht üppig. Industriekletterer hängen stundenlang im Seil und müssen körperlich fit sein. Neben anderen Gefahren kann es dabei zu einem Hängetrauma kommen, weil das Blut in die Beine sackt, was zu einem lebensbedrohlichen Schockzustand führen kann. Wegen der vielen Risiken und Belastungen ist für die meisten Industriekletterer mit Anfang 50 Schluss. Doch es gibt Ausnahmen: „Mein ältester Mitarbeiter“, sagt Lillie, „ist 62 Jahre alt.“ JOSEPH SCHEPPACH