MIT Technology Review 8/2019
S. 96
Fundamente
Jubiläum

Dampf schlägt Benzin

Für ein Autorennen hatte die Tour von Paris nach Rouen am 22. Juli 1894 ziemlich große Auswirkungen: Sie veränderte nicht nur die Autobranche, sondern auch die Sprache, die französische Presselandschaft und den Radsport.

Vordergründig traten vor 125 Jahren vor allem verschiedene Antriebsarten gegeneinander an: Dampf, Benzin, Strom, Federn, Druckluft, Hydraulik, Propeller sowie neun obskure „Gravitationsmotoren“. Die meisten der 102 Angemeldeten erschienen allerdings gar nicht erst oder scheiterten an der Qualifikation. Übrig blieben 21 Starter für eine 126 Kilometer lange Fahrt Richtung Atlantik, die später als erstes Autorennen der Welt in die Geschichte eingehen sollte.

Den eigentlichen Wettkampf fochten aber zwei Sturköpfe untereinander aus: der Unternehmer und Politiker Albert Graf de Dion (1856–1946) als Teilnehmer und der Verleger Pierre Giffard (1853–1922) als Organisator.

De Dion kam mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 19 Kilometern pro Stunde als Erster von insgesamt 17 Wagen ins Ziel. Kein Wunder, denn sein selbst gebauter Dampftraktor, der einen Passagieranhänger hinter sich herzog, verfügte über beachtliche 20 Pferdestärken. Die benzingetriebene Konkurrenz brachte es nicht mal auf ein Viertel davon. Trotzdem wurde de Dion nicht zum Sieger gekürt. Denn erstens war die Fahrt nicht als Geschwindigkeitsrennen ausgeschrieben, sondern als Zuverlässigkeitsfahrt mit reichlich Zeit für ein ausgiebiges Mittagessen. Zweitens forderte die Ausschreibung, die Fahrzeuge müssten sicher, leicht bedienbar und preiswert sein. Davon konnte bei dem monströsen Dampfschlepper offenbar nicht die Rede sein: Er brauchte einen eigenen Heizer, und unterwegs rauschte er einmal in den Straßengraben.

Der Dampfwagen von de Dion war so etwas wie ein Sattelschlepper mit angehängter Kutsche – und trotzdem schneller als sämtliche Konkurrenz. Foto: AKG Images

Drittens war Organisator Giffard dem Grafen wegen eines politischen Streits in inniger Feindschaft verbunden. Und so verteilte er das Preisgeld unter den vier Nächstplatzierten, die mit ihren Fahrzeugen von Peugeot und Panhard & Levassor etwa drei Minuten länger gebraucht hatten. Sie alle waren mit in Lizenz gebauten V2-Benzinmotoren aus dem Hause Daimler unterwegs, Nummer fünf mit einer Maschine von Benz. Alle anderen Benziner kamen ebenfalls ins Ziel. Gottlieb Daimler und sein Sohn Paul waren eigens zum Rennen nach Frankreich gereist und konnten ihren Triumph miterleben – und den des Autos generell: Es fand erst durch das Rennen zu seinem Namen. In der Ausschreibung war noch die Rede von „Wagen ohne Pferde mit mechanischem Antrieb“. Erst in der Berichterstattung darüber etablierte sich die Bezeichnung „Automobile“.

De Dion forderte Revanche in einem reinen Geschwindigkeitsrennen. 1895 trat er auf der knapp 1200 Kilometer langen Strecke Paris-Bordeaux-Paris erneut gegen die benzingetriebene Konkurrenz an. Doch er hatte keine Chance. Damit war der Wettstreit der Antriebsformen für die nächsten hundert Jahre entschieden. Einer der größten Profiteure davon war: Albert Graf de Dion. Er stellte nach dem Rennen die Dampfmaschinenproduktion ein und entwickelte gemeinsam mit seinem Partner George Bouton einen Einzylinder-Viertakter aus Aluminium, der seine Firma zur Jahrhundertwende zeitweise zum größten Autobauer der Welt machte.

Damit nicht genug: Um Giffard aus dem Markt zu drängen, gründete er auch noch ein Konkurrenzblatt, das ebenfalls Sportveranstaltungen organisierte. Daraus ging später die Tour de France hervor. GREGOR HONSEL