MIT Technology Review 11/2020
S. 70
Fokus
Splitternet
Präsident Jair Bolsonaro lässt möglichst viele Informationen über die Bürger seines Landes in einer Zentraldatenbank speichern. Illustration: Stuart Bradford

Brasiliens Weg in die ­Datendiktatur

Einst Vorreiter beim Datenschutz, entwickelt sich Brasilien unter Präsident Bolsonaro allmählich zu einem Überwachungsstaat. Die Pandemie hat den Trend beschleunigt.

Von Richard Kemeny

Viele Jahre lang nahm die größte Demokratie Lateinamerikas eine Vorreiterrolle beim Datenmanagement ein. 1995 rief sie den brasilianischen Internet-Lenkungsausschuss ins Leben. Das Stakeholder-Gremium half, Grundsätze für die Internetverwaltung festzulegen. Angetrieben durch ­Edward Snowdens Enthüllungen, leistete die Regierung von Dilma Rousseff 2014 Pionierarbeit mit dem Marco Civil, einer Art „Internet Bill of Rights“, die sogar Tim Berners-Lee, der Erfinder des World Wide Web, lobte. Vier Jahre später verabschiedete der Kongress ein Datenschutzgesetz, das LGPD, das sich eng an die europäische Datenschutz-Grundverordnung anlehnt.

Aber die Zeiten ändern sich. Schon vor der Covid-19-Pandemie hatte Brasiliens Regierung begonnen, eine umfassende Infrastruktur zur Datenerfassung und Überwachung aufzu­bauen. Im Oktober 2019 unterzeichnete Präsident Jair Bolso­naro ein Dekret, das alle Bundesbehörden dazu verpflichtet, ­einen Großteil der Informationen, die sie über brasilianische Staatsbürger besitzen – von Gesundheitsdaten bis hin zu biometrischen Angaben –, gemeinsam zu nutzen und in einer Master-Datenbank, dem Cadastro Base do Cidadão, abzulegen.