MIT Technology Review 11/2020
S. 72
Fokus
Splitternet

Russische Gratwanderung

Der Moskauer Tech-Gigant Yandex balanciert zwischen staatlichem Kontrollzwang und Unabhängigkeit. Die Strukturen könnten als Blaupause für mächtige Technologiekonzerne in Demokratien dienen.

Von Evan Gershkovich

Von Ende März bis Mitte Juni, als sich Moskau im Corona-Lockdown befand, war die russische Hauptstadt von normalen Passanten nahezu leergefegt. Bei Spazier­gängen zum Supermarkt oder zur Apotheke zogen stattdessen ganze Kolonnen von Radfahrern in der gelben Uniform des Yandex-Lieferdienstes für Lebensmittel an mir vorbei. Zu den wenigen Fahrzeugen auf der Straße – neben Polizeiautos oder Bussen – zählten Yandex-Taxis, die an neu eröffneten Halte­stationen desinfiziert wurden.

Im Westen wird Yandex oft als Russlands Google bezeichnet. In Wirklichkeit ist es eher eine Kombination aus Google, Amazon, Uber und vielleicht noch ein paar anderen Unternehmen. Die Russen bitten Alice, die virtuelle Assistentin des Unternehmens, ihnen bei der Online-Bestellung von Waren im Yandex-Markt zu helfen. Sie benutzen das E-Mail-System des Konzerns, hören Musik auf seinem Player und besuchen seine Website mit Filmempfehlungen. Beim Kaffee lesen sie die Morgennachrichten auf dem Yandex-News-Portal. Sie senden sich gegenseitig Geld über das Yandex-Wallet-System. Und ihr ­Google Maps ist der Yandex Navigator. Yandex allein sei ein ganzes russisches Silicon Valley, sagt Arkadi Wolosch, CEO und Mitbegründer des an der elektronischen Börse Nasdaq in New York gehandelten Unternehmens.