MIT Technology Review 12/2020
S. 32
Horizonte
Medizin

Neue Karriere für alte Pillen

Bekannte Arzneien in neue Anwendungen zu bringen, ist eine wichtige und junge Strategie der Pharmabranche. Das Revival der Alten hat durch Covid-19 und datengetriebene Systemmedizin einen Schub erfahren.

Von Susanne Donner

Alte Arzneien in neue Anwendungen zu bringen, gilt als Schnellstraße der Innovation in der Pharmabranche. „Neue Wirkstoffe werden immer ganz breit auf verschiedene Indikationen hin abgeprüft. Man lässt sie zuerst für eine nicht allzu große Indikation zu, bei der es kaum Medikamente gibt. Also da, wo der ‚medical need‘, groß ist. Dann werden weitere Indikationen Schritt für Schritt angebaut. Diese Vorgehensweise ist seit ungefähr acht bis zehn Jahren Standard“, sagt Bernd Ziegler, Experte für Pharma bei der Boston Consulting Group. Der große Vorteil: Die Nebenwirkungen der Medikamente sind bekannt. Studien liegen schon vor. Das Risiko des Scheiterns ist geringer. Die Zeit bis zur Zulassung für eine neue Krankheit beziffern Studien auf nur drei bis sechseinhalb Jahre verglichen mit zehn bis zwölf Jahren bei neuen Wirkstoffen.

Besonders nahe liegt der Blick in die vorhandene Apotheke bei neuen Krankheiten, gegen die es noch keine Mittel gibt, wie nun Infek­tionen mit Sars-CoV-2. „Es ist einmalig: Jetzt spricht jeder über Drug Repositioning, also das Aufstellen alter Medikamente gegen neue Krankheiten“, sagt Aris Persidis. Seine Firma Biovista mit Sitz in Charlottesville im Bundesstaat Virginia hat sich ganz dieser Strategie verschrieben. Die Corona-Pandemie verleiht ihr neuen Schub. Auch die noch junge System­medizin befördert sie. Aus einer Fülle von Daten kondensiert Software die entscheidenden Hinweise, beispielsweise welche der etwa 2750 in Deutschland zugelassenen Arzneiwirkstoffe heiße Kandidaten sein könnten.