MIT Technology Review 3/2020
S. 90
Fokus
Neurotechnologie
Vivian Mu­shahwar hat entdeckt, welches ­Potenzial im Rückenmark steckt: vielleicht eine neue Hoffnung für Gelähmte. Foto: Ross Neitz

Das Rückenmark weiß, wie’s geht

Lange dachte man, um Gelähmte wieder laufen zu lassen, müsse man ihre Beine ­stimulieren. Falsch, sagt eine kanadische Expertin – und setzt direkt am Rückenmark an.

Von Susanne Donner

Der Mensch denkt nicht nur mit dem Gehirn. Auch der Körper hat ein Gedächtnis. Das ist zwar schon länger bekannt, praktische Schlussfolgerungen hat jedoch bislang kaum jemand daraus gezogen. Die Neurowissenschaftlerin Vivian Mushahwar von der kanadischen Universität in Alberta ist nun dabei, das zu ändern: Sie konnte zeigen, dass die gesamten koordinierten Bewegungsmuster für das Gehen im Rückenmark gespeichert sind. Mit spezifischer elektrischer Stimulation lassen sie sich wachrufen. Dabei sind die Orte und Muster der Aktivierung speziesübergreifend nahezu identisch, wie sie bei Primaten und Katzen nachwies und im September 2019 im Journal „Scientific Reports“ öffentlich machte. Es existiert quasi eine Speicherkarte des Gehens in den Rückenmarksnerven. Um die Beine von Gelähmten zu aktivieren, haben Forscher bisher Muskeln angeregt. Sie waren jedoch oft daran gescheitert, weil man dabei die gesamte Koordination, die es fürs Gehen braucht, künstlich nachstellen muss. „Das ist unglaublich schwer“, erklärt Mushahwar.

Die Neurowissenschaftlerin hingegen will mit winzigen Elektroden das Rückenmark stimulieren und so das Programm fürs Gehen wachrufen. Für ihre Experimente an komplett querschnittsgelähmten Menschen werden die Wissenschaftler demnächst die Genehmigung der Zulassungsbehörde FDA beantragen. „Das ist der nächste Schritt“, so Mushahwar. Durch zahlreiche Experimente an Ratten, Schweinen und Katzen ist die Technik den Forschern zufolge weit genug entwickelt, um reif für klinische Studien zu sein.