MIT Technology Review 8/2020
S. 88
Meinung
Bücher

Bericht von der Lügen-Front

Peter Pomerantsev fügt die vielen verschiedenen Kämpfe um die Informationshoheit zu einem beunruhigenden ­globalen Muster zusammen.

Peter Pomerantsev: „Das ist keine Propaganda“ DVA, 304 Seiten, gebunden, 22 Euro (E-Book 19,99 Euro)

Online-Medien und allen voran Social Media sind mit dem Traum gestartet, jedem Menschen eine Stimme zu geben. Inzwischen jedoch haben sich viele Macht­apparate diese Stimme zurückgeholt und das Internet zum Propaganda-Kanal gemacht. Die Ursachen dafür – von der Algorithmen-Steuerung bis hin zur Abhängigkeit von Werbung und damit von Klickzahlen – sind vielfach beschrieben und analysiert worden.

Peter Pomerantsev, Journalist sowie Forscher am Institute of Global Affairs der London School of Economics, schafft es trotzdem, dem Thema einen wichtigen Blickwinkel hinzuzufügen. Denn meist wird das Thema lediglich akademisch analysiert oder – wenn es lebensnah wird – oft nur isoliert an einem Beispiel wie Cambridge Analytica oder dem Versuch Russlands, die US-Präsidentschaftswahl 2016 zu ­beeinflussen.

In seinem Werk „Das ist keine Propaganda“ aber gelingt Pomerantsev ein gleichzeitig lebensnahes und globales Bild davon, „wie unsere Wirklichkeit zertrümmert wird“. Er hat viele maßgebliche Personen getroffen, und zwar auf beiden Seiten der Front. Er hat mit Aktivisten gesprochen, die Protestbewegungen digital organisierten – und irgendwann entsetzt feststellten, wie die Mächtigen in Mexiko, Russland, den Philippinen oder in China ihre Methoden für den eigenen Machterhalt kopierten. Und er hat jene interviewt, die diese neue Propaganda-Maschine füttern – und besser als je ­zuvor darin sind, es nicht nach Propaganda aussehen zu ­lassen.

Seite für Seite zeichnet sich ein unheimlicher Werkzeugkasten der Manipulation ab. Das Bild eines globalen Musters der Desinformation entsteht. „Eine neue ­Generation von Bots und Trollen treibt uns immer weiter in die Welt der reinen Simulation“, zitiert Pomerantsev den mexikanischen Aktivisten Alberto Escorcia.

Der Unterschied von Falschinformation und Wahrheit entschwindet, den Men­schen kommen die Bezugspunkte abhanden, sie werden leichter manipulierbar. „Das Problem, vor dem wir heute stehen, ist weniger Unterdrückung als vielmehr Identitätsmangel, Apathie, Spaltung, fehlendes Vertrauen“, zitiert der Autor einen weiteren seiner Hauptzeugen, den Serben Srdja Popovic. „Es gibt mehr Instrumente, etwas zu ändern, als zuvor, aber weniger Willen, es zu tun.“ Das Buch ist vor den Protesten von Black Lives Matter erschienen, vielleicht ist die Lage nicht ganz so düster wie Pomerantsev sie sieht. Aber sie ist düster genug, um etwas dagegen zu tun.

Robert Thielicke