MIT Technology Review 2/2021
S. 76
Fokus
Wahrheit
Grafik: picture alliance/Westend61

Warum Sie nicht wirklich wissen, was Sie zu wissen glauben

Die Wahrheit ist ein glitschiger Fisch. 1999 wurde Sally Clark wegen Mordes an ihren Kindern verurteilt, weil ein Experte Wahrscheinlichkeiten falsch berechnete. Der Fall gilt heute als Lehrbuch-Beispiel für Statistiker. Was ist wahr? Was ist falsch? In den meisten Fällen müssen wir das aus Beobachtungen schließen – und uns dabei mehr auf andere ver­lassen, als uns bewusst ist (Seite 77). Doch das Ringen um Erkenntnis wird um so schwerer, je mehr die Fakten verzerrt sind (S. 82). Kein Wunder, dass große Hoffnungen auf unbestechlichen, objektiven Maschinen ruhen, die für uns auf die Suche nach Ursache und Wirkung – und damit nach Wahrheit gehen sollen (S. 90). Aber vielleicht ist die Suche nach der perfekten, intelligenten Maschine ja auch nur ein Märchen, das wir nur allzu gerne glauben wollen (S. 86). Eines der größten wissenschaftlichen Experimente der Welt zeigt, dass jeder Einzelne gleichzeitig sowohl mehr als auch weniger weiß, als er denkt.

Von Matthew Hutson

Im Juli zeigte mir Joseph Giaime, Physikprofessor an der Louisiana State University und am Caltech, per Zoom den Kontrollraum des Laser Interferometer Gravitationswellen-Observatoriums (Ligo). Es ist eines der komplexesten wissenschaftlichen Experimente der Welt und konnte 2015 Gravitationswellen nachweisen, die durch die Kollision zweier schwarzer Löcher in 1,3 Milliarden Lichtjahren Entfernung entstanden sind (siehe TR 13/2016, S. 64). Das System überwacht zehntausende Datenkanäle in Echtzeit. Etwa 30 große Monitore zeigen unter anderem die Streuung des Lichts an den Optiken, oder die Vibrationen des Instruments durch seismische Aktivitäten und menschliche Bewegungen.

Ich besuchte Ligo, weil dort Hunderte von Spezialisten verschiedener Disziplinen zusammenarbeiten und suchte Antwort auf eine scheinbar einfache Frage: Was bedeutet es wirklich, etwas zu wissen? Wie gut ist unser Verständnis von der Welt, wenn so viel von unserem Wissen auf Beweisen und Argumenten beruht, die von anderen geliefert werden – denen wir letztlich einfach glauben müssen?