MIT Technology Review 2/2021
S. 82
Fokus
Wahrheit
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Wie die Wahrheit ermordet wurde

Die Pandemie, Proteste und eine prekäre US-Wahl haben eine überwältigende Flut von Desinformationen geschaffen. Das wäre vermeidbar gewesen.

Von Abby Ohlheiser

Vorstadtmütter in den USA drucken Facebook-Postings über „Gesundheitspropaganda“ aus und erscheinen ohne Mund-Nasenschutz in Geschäften – mit der Kamera in der Hand und wild entschlossen, schlecht bezahlte Einzelhandelsmitarbeiter zu zwingen, sie trotzdem einkaufen zu lassen. Bewaffnete rechte Milizen patrouillieren in Westküsten Städten und greifen Online-Gerüchte über „Antifa“-Invasionen auf. Und dann ist da noch QAnon, die Online-Verschwörungstheorie, die behauptet, Trump führe einen geheimen Krieg gegen einen Ring satanistischer Pädophiler. Viele US-Amerikaner, vor allem weiße, haben den anschwellenden Strom an Online-Hass und Desinformation erlebt, als würden sie hoch darüber auf einer Brücke stehen, mit Blick zum Horizont. Sie glaubten nicht an die Existenz dieser Flut, bis sie ihnen selbst an die Knöchel klatschte. Jetzt, da ihre Brücke nicht mehr hoch genug ist, spüren auch sie die töd­liche Online-Strömung. Um zu verstehen, wie das Problem so groß werden konnte, muss man verstehen, wie viele Menschen versucht haben, davor zu warnen.

„Alle sagen: ‚Das habe ich nicht kommen sehen‘“, so die Analystin Shireen Mitchell. In den frühen 2010er Jahren war sie eine von vielen schwarzen Forscherinnen und Forschern, die koordinierte Mobbing- und Desinformationskampagnen auf Twitter gegen schwarze Feministinnen dokumentierten. „Wir sahen es durchaus kommen und wir haben es nachverfolgt“, sagt sie.