MIT Technology Review 5/2021
S. 100
Meinung

Covid-19

Anderthalb Jahre Corona-Pandemie und nichts gelernt?

Verdrängung ist ein faszinierender Schutzmechanismus für unsere Seele und lässt sich in der Pandemie vortrefflich studieren: Zum Redaktionsschluss sind in Deutschland 90 819 Menschen an einer Infektion mit einer der vielen Varianten des Sars-Cov-2 Virus gestorben. In der EU waren es 736 553 Tote und Deutschland steht hinter Italien und Frankreich mit auf dem Treppchen. Wären die Briten noch dabei, würden sie die Statistik mit etwas mehr als 128 000 Opfern anführen. Aber das gerät selbst mit einer für die menschliche Seele erstaunlichen Geschwindigkeit in Vergessenheit, wenn Politiker im Wahlkampfmodus niedrige Inzidenzen nutzen, um Impferfolge zu feiern und zur großen Freiheit zu blasen. Masken ab, Urlaub, Fußball, Festivals. War vor wenigen Wochen noch die Rede von Privilegien für vollständig Geimpfte, scheint jetzt alles egal. Die Inzidenz ist niedrig, lasst uns superspreaden.

Dass die Pandemie von einigen wenigen Menschen ausgehend ihren Zug um die Welt gestartet hat, verdrängen wir. Und die erste Version des Virus war noch eine ungeschickte Anfängerin im Vergleich zu der hochinfektiösen Delta. Über die Schwere der Verläufe, die sie auslöst, gibt es keine verlässlichen Daten – zu schwierig ist die Beurteilung geworden, da die Testgruppe „Menschheit“ inzwischen an zu vielen Stellschrauben gedreht hat: vollgeschützte Alte, teilgeschützte Mittelalte, ungeschützte Junge. Was das für die Kliniken bedeuten wird, kann niemand vorhersagen. Das müssen wir ausprobieren. Und das haben wir uns offenbar fest vorgenommen, schaut man sich Bilder aus Fußballstadien, von der Algarve oder vom Ballermann an.