Wie wir denken
Weil Jeff Hawkins verstehen will, wie das menschliche Gehirn funktioniert, hat er ein eigenes Forschungsinstitut gegründet. Sein neuestes Buch enthält eine faszinierende Theorie.
Lesen Sie dieses Buch nicht abends im Bett“, schreibt der Evolutionsbiologe Richard Dawkins im Vorwort zu „A Thousand Brains“. „Nicht weil es beängstigend wäre. Nicht weil Sie davon Albträume bekommen. Sondern weil es so berauschend ist, so stimulierend, dass es ihren Geist in einen Mahlstrom provokativer Ideen verwandelt.“ Dawkins hat Recht: Das Buch von Hawkins ist absolut aufregend – jedenfalls wenn man sich für die Frage interessiert, wie Gehirne funktionieren.
Was todsicher für Jeff Hawkins gilt: Nachdem er seine Unternehmen Palm und Handspring für viel Geld verkauft hatte, gründete Hawkins das Forschungsunternehmen Numenta, das Prinzipien der biologischen Informationsverarbeitung für Computer nutzen will. Parallel dazu eröffnete er das „Redwood Neuroscience Institute“, in dem die begleitende Grundlagenforschung stattfinden soll.
Bereits 2004 formulierte Hawkins dann in seinem Buch „On Intelligence“ erste Ideen darüber, wie biologische Gehirne funktionieren. Als Dreh- und Angelpunkt hat er dabei, inspiriert von den Theorien des Neurobiologen Vernon Mountcastle, die „kortikalen Kolumnen“ ausgemacht: Das sind säulenartige Strukturen im Neokortex – dem Ort, an dem unsere Intelligenz vermutlich entsteht. Diese Kolumnen funktionieren laut Hawkins universell, arbeiten also nach den gleichen Prinzipien, ganz egal, ob sie mit unseren Augen verbunden sind, mit dem Tastsinn oder mit abstrakten Konzepten wie Sprache oder Mathematik jonglieren.
In seinem neuen Buch formuliert Hawkins nun, wie sie das tun: Demnach verarbeiten viele kortikale Säulen Input parallel – allerdings aus jeweils einem etwas anderen Blickwinkel – zum Beispiel das Gefühl verschiedener Finger. Eine Art eingebautes Koordinatensystem in den Säulen berücksichtigt die relative Verschiebung der Input-Signale zueinander. In jeder Säule läuft nun eine Vorhersage darüber ab, wie der nächste, folgende Sinneseindruck aussehen wird. Die untereinander verbunden Säulen bilden dann in einer Art Abstimmung einen Konsens: ein globales Modell der Welt entsteht.
Das klingt erstaunlich ähnlich wie die GLOM-Theorie, die der Deep-Learning-Pionier Geoffrey Hinton (siehe Seite 70) vorgeschlagen hat. Allerdings gibt es für beide Theorien noch keine experimentellen Belege. „Wie kann ich dann so sicher sein, dass meine Theorie richtig ist?“, schreibt Hawkins. „ (…) Das ist wie bei einem Kreuzworträtsel: Es gibt mehrere Wörter, die nur auf einen Hinweis passen. Wenn das Wort, das Sie hinschreiben, auf alle bereits vorhandenen Buchstaben passt, ist die Chance, dass es falsch ist, minimal.“
Wolfgang Stieler