MIT Technology Review 6/2021
S. 10
Aktuell
Schmerzempfinden ist nicht an einer Stelle im Hirn lokalisiert, sondern über mehrere Bereiche verteilt. Das macht es schwierig, Schmerzen zu dämpfen.
Foto: Photodisc/Getty Images © 2021 Jorg Greuel

Schmerzfrei in der Matrix

Ein Hirn-Implantat erkennt auftretende Schmerzen und schaltet sie in Echtzeit ab – jedenfalls im Tierexperiment.

Mit Hirnströmen lassen sich bereits Roboter steuern oder Gedanken in gesprochene Sprache umwandeln. Aber herauszufinden, ob ein Mensch gerade Schmerzen empfindet, das war bisher nicht möglich. Während viele Sinneseindrücke in fest zugeordneten Hirnregionen verarbeitet werden, ist die Verarbeitung von Schmerz nämlich auf viele Stellen des Gehirns verteilt – die „Schmerz-Matrix“. Entsprechend schwer ist Schmerz zu detektieren. Nun gelang einem Forschungsteam der New York University School of Medicine ein Durchbruch: Mit einem Hirnimplantat konnte es Schmerzen bei Ratten nicht nur erkennen, sondern auch abschalten.

Zum Lesen der Hirnaktivität wählten die Forscherinnen und Forscher einen bekannten Punkt der Schmerz-Matrix, den anterioren cingulären Kortex – ein Teil der Gürtelwindung, die zum limbischen System gehört. Hier verarbeitet das Gehirn zugleich auch viele andere Informationen. Um aus diesem Signal-Wirrwarr die zur Schmerzerkennung relevanten Muster herauszufiltern, verwendeten die Wissenschaftler ein „Zustandsraummodell“. Dies ist eine mathematische Methode, um dynamische Systeme in Form von Matrizen und Vektoren darzustellen. Anders als in vielen ähnlichen Experimenten wird hier also keine künstliche Intelligenz, sondern ein statistisches Modell verwendet.

Erkennt das System Schmerzen, sendet es sogleich ein Signal an eine andere Hirnregion im präfrontalen Kortex. Deren Stimulierung führt dazu, dass die Schmerzen weniger stark wahrgenommen werden. Allerdings geschah dies in den Tierexperimenten nicht durch Elektroden, sondern durch eine optogenetische Stimulation: Die gewünschten Neuronen werden zunächst gentechnisch lichtempfindlich gemacht und lassen sich anschließend durch Lichtsignale stimulieren. Das hat unter anderem den Vorteil, dass kein direkter elektrischer Kontakt zu den betreffenden Neuronen nötig ist und es nicht so leicht zu Narbenbildung und Abkapselungen kommt.

Im Experiment fügten die Forschenden den genetisch veränderte Ratten an einer Pfote Hitzeschmerzen zu. Mit eingeschaltetem System zogen sie ihre Pfoten 40 Prozent langsamer zurück als ohne. Das Resultat zeigt auch, dass der Schmerz offenbar nicht vollständig, sondern nur graduell unterdrückt wird.

Tiefe Hirnstimulation wird seit mehr als zehn Jahren genutzt, um Alzheimer, Depressionen oder neuropathische Schmerzen zu behandeln (siehe TR 5/2020, S. 52). Allerdings stimulierten diese Systeme die gewünschten Hirnregionen bislang ununterbrochen und nicht nur bei Bedarf. Der dazu nötige kybernetische Regelkreis wäre irgendwann auch im Menschen denkbar. Ein völlig schmerzbefreiter Cyborg-Soldat ist damit noch nicht in greifbare Nähe gerückt – wohl aber einer, der Schmerzen besser aushalten kann.

Medizinisch relevanter als die Unterdrückung akuter Schmerzen ist allerdings die chronischer Schmerzen. Dies wäre ein Gamechanger für zahllose Schmerzpatienten, denen medikamentös oftmals nur bedingt geholfen werden kann oder deren Medikamente teils schwere Nebenwirkungen haben.

Dieser Frage widmet sich auch das New Yorker Forschungsteam in seinem Paper, das als Preprint in der Zeitschrift Nature Biomedical Engineering erschienen ist (doi.org/10.1038/s41551-021-00736-7). Sie induzierten den Ratten eine künstliche Allodynie – eine Überempfindlichkeit für harmlose Berührungen, die dann als Schmerzen empfunden werden. Solche Überempfindlichkeiten – auch gegenüber Licht oder Geräuschen – gehen häufig auch mit neuropathischen Schmerzen einher, zum Beispiel bei Migräne. Im Experiment konnten die Forschenden zeigen, dass ihr System auch solche Schmerzen lindern kann.

„Überempfindlichkeiten gehen oft mit Migräne einher, sind aber nicht die Migräne selbst“, sagt der Neurophysiologe Markus Dahlem. Er ist CEO des Berliner Start-ups M-sense, das eine Migräne-App entwickelt hat. Den Ansatz, Schmerzen aus dem anterioren cingulären Kortex auszulesen, findet er sehr beeindruckend. Allerdings eigne er sich seiner Einschätzung nach nur zum Detektieren „nozizeptiver“ Schmerzen. Das sind solche, die über Nervenbahnen ans Gehirn gemeldet werden, zum Beispiel weil ein Körperteil verletzt oder entzündet ist. Sie können zwar auch chronisch werden, so Dahlem, aber meist denke man bei chronischen Schmerzen an „neuropathische“ Schmerzen, die auf viele verschiedene Weisen entstehen.

Außerdem stellt sich die Frage, wie im Tierexperiment sicher festgestellt werden kann, dass die Tiere wirklich neuropathische Schmerzen empfinden. Und selbst wenn das System tatsächlich neuropathische Schmerzen unterdrücken könnte: Vom Tierexperiment bis zum Prototypen für menschliche Gehirne ist es noch ein weiter Weg. Denn dazu müssten unter anderem menschliche Nervenzellen optogenetisch verändert werden. Es dürften also noch einige Jahre bis zum Hirnimplantat für chronische Schmerzpatienten vergehen. Trotzdem ist die Vorstellung zusätzlicher kybernetische Regelkreise im Gehirn faszinierend. Mit Daten aus einem Teil des Gehirns in Echtzeit nicht nur Maschinen zu steuern, sondern andere Teile des Gehirns, lädt auf jeden Fall zu allerlei Gedankenexperimenten ein. Enno Park