MIT Technology Review 8/2021
S. 48
Fokus
Gehirnforschung

Ein kleines Molekül repariert das Gehirn

Auf dem synthetischen Stoff ISRIB ruht derzeit die Hoffnung der Hirnforschung. Bei Mäusen regeneriert er verletzte und demente Gehirne, verbessert ihr Erinnerungsvermögen und verjüngt sie. Ob ISRIB oder verwandte Verbindungen das auch beim Menschen leisten können, sollen jetzt klinische Studien zeigen.

Von Adam Piore, Übersetzung: Dr. Jo Schilling

Carmela Sidrauski war nicht auf der Suche nach einem Wundermittel. Sie testete nur Tausende von Molekülen in einem halbautomatischen Hochdurchsatzverfahren im Labor von Peter Walter an der University of California, San Francisco. Eine der Substanzen, die der Automat aussortiert hatte, machte sie neugierig. Sie verschob die Probe in die Gruppe, die sie weiter untersuchen wollte.

Grafik: PDB ID, Mol* (D. Sehnal, S. Bittrich, M. Deshpande, R. Svobodová, K. Berka, V. Bazgier, S. Velankar, S.K. Burley, J. Koča, A.S. Rose (2021). doi: 10.1093/nar/gkab314), RCSB PDB
Unter Stress wird elF2, der Auslöser für die Produktion von Proteinen, durch eine körpereigene Hemmsubstanz in elF2B umgewandelt. Das stoppt die Proteinproduktion. ISRIB schmiegt sich in das Zentrum vom elF2B und stellt damit seine Funktion wieder her – die Proteinproduktion fährt wieder an.
Grafik: PDB ID, Mol* (D. Sehnal, S. Bittrich, M. Deshpande, R. Svobodová, K. Berka, V. Bazgier, S. Velankar, S.K. Burley, J. Koča, A.S. Rose (2021). doi: 10.1093/nar/gkab314), RCSB PDB

Das war im Jahr 2010; heute klingt die Liste der möglichen therapeutischen Anwendungen für dieses Molekül fast zu schön, um wahr zu sein: Das Molekül hat Mäusen Monate nach traumatischen Hirnverletzungen das Gedächtnis zurückgegeben, und es zeigt Potenzial bei der Behandlung von neurodegenerativen Erkrankungen wie Alzheimer, Parkinson und amyotropher Lateralsklerose, kurz ALS. Es scheint sogar altersbedingten kognitiven Abbau zu bremsen und hat gesunden Mäusen ein fast fotografisches Gedächtnis verliehen.