MIT Technology Review 3/2022
S. 79
Report
Déjà-vu

Weniger Strahlung

An dieser Stelle blicken wir auf frühere Artikel der MIT Technology Review zurück, die heute wieder aktuell sind. Diesmal: die Transmutation von Atommüll als Ausweg aus der Strahlungsfalle.

Jo Schilling

„Ach, der Fortschritt ist eine Schnecke“, wiegt mein Kollege Wolfgang Stieler seufzend den Kopf. Der Anlass ist ein Gespräch zwischen uns über Transmutation – die Umwandlung hoch radioaktiven Abfalls in weniger gefährliche Elemente mit dramatisch kürzerer Halbwertszeit. Wir sind nicht die Einzigen, die jetzt darüber sprechen, denn die aktuellen energiepolitischen Entwicklungen machen deutlich: Ohne Atomenergie wird es schwierig, von fossilen Energieträgern loszukommen. In Deutschland werden zwar in diesem Jahr die letzten drei Atommeiler abgeschaltet, gleichzeitig stuft die Europäische Union Atomkraft und Erdgas als nachhaltig ein. Atomenergie wird in der EU wieder hoffähig, Small Modular Reactors werden als Hoffnungsträger für dezentrale Lösungen gehandelt. Damit bekommt auch die Transmutation neuen Rückenwind, denn eines der Hauptprobleme der Atomenergie – der langfristige Umgang mit dem hoch radioaktiven Abfall – ist bis heute nicht gelöst.

Dass der Fortschritt eine Schnecke ist, macht der Kollege daran fest, dass er bereits vor ziemlich genau zehn Jahren in MIT Technology Review über das belgische Nuklearforschungszentrum SCK CEN in Mol geschrieben hat. Dort hat sich Hamid Abderrahim, damals Leiter des Instituts für Advanced Nuclear Systems, auf die Fahnen geschrieben, die Strahlungszeit von Atommüll von über 300 000 auf 300 Jahre zu verkürzen. Schon damals sprach der heutige stellvertretende Generaldirektor der Einrichtung vom ersten Transmutationsreaktor der Welt, von Myrrha, den er bauen wollte. Jetzt sind die Bäume auf der Fläche gefällt, auf der Myrrha ab diesem Jahr gebaut wird. Die belgische Regierung stellt 558 Millionen Euro für den Reaktor bereit. Insgesamt sind 1,6 Milliarden Euro an Kosten kalkuliert.