MIT Technology Review 5/2022
S. 21
Titel
Ökosystemleistung

Mindestlohn für einen Baum

Sauberes Wasser, frische Luft und Nährstoffe im Boden sind endliche Ressourcen – und Produkte intakter Ökosysteme. Deren Leistung hat einen immensen Wert. Das Problem: Sie wird fast nirgendwo angemessen honoriert.

Ulf J. Froitzheim

Vor zwei Jahren präsentierte die Unternehmensberatung Boston Consulting Group (BCG) eine astronomisch anmutende Zahl: 150 Billionen Dollar seien die Bäume der Erde wert. Das war annähernd das Doppelte des damaligen Börsenwerts aller Aktiengesellschaften weltweit. Fast ein Drittel dieser gewaltigen Summe drohe binnen 30 Jahren verloren zu gehen – durch Abholzung oder Folgen des Klimawandels. Den Wert des Holzes in den Forsten und Urwäldern schätzten die BCG-Ökonomen im weltweiten Schnitt auf gerade einmal ein Zehntel davon. Zu 90 Prozent stecke das Kapital in den Leistungen, die diese Ökosysteme still und leise der Menschheit schenken: „Wälder speichern riesige Mengen Kohlendioxid, tragen zur Reinigung von Wasser und Luft bei, sichern die natürliche Artenvielfalt und bieten Millionen Menschen eine Existenzgrundlage“ (siehe S. 40).

Mit dieser Publikation erreichte eine Idee den ökonomischen Mainstream, über die in ökologisch interessierten Kreisen mindestens seit der Jahrtausendwende diskutiert wird: dass natürliche Ökosysteme ebenso geldwerte Dienstleistungen erbringen wie die von Menschen bewirtschafteten. Traditionell sind Volkswirte für externen Nutzen ebenso blind wie für externe Kosten. Bei der Berechnung des Bruttoinlandsprodukts ziehen sie weder Schäden durch Treibhausgase und Umweltverschmutzung ab noch beziehen sie die Wohlfahrtsgewinne ein, die von der Erholungsfunktion der Wälder, Parks und naturnahen Landschaften ausgehen. Dementsprechend werden bescheidene Ausgleichszahlungen an Landwirte, die an Feldrändern Blühstreifen für Insekten anlegen oder in Wasserschutzgebieten aufs Düngen verzichten, immer noch als Subventionen gebrandmarkt, statt sie als Vergütung für eine Dienstleistung zu deklarieren, die dem Gemeinwohl zugutekommt. Dabei ist eine intakte Umwelt im Wettbewerb um Gewerbesteuerzahler und Fachkräfte längst zum werbewirksamen Standortfaktor avanciert.