Computergestützte Standortfaktoranalyse

Das Fraunhofer-Institut hat ein Software-Tool entwickelt, mit dem deutsche Unternehmen durchrechnen können, ob sich die Produktionsverlagerung ins Ausland lohnt

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Geht es um so genannte Standortfaktoren, werden üblicherweise „weiche“ und „harte“ unterschieden. Als hart und eindeutig gelten dabei beispielsweise das Lohnniveau, die Qualität der Infrastruktur oder die Höhe der Abgaben an den Staat, als weich und schwer zu bestimmen etwa die Motivation der Mitarbeiter oder das kulturelle Umfeld. Allerdings scheinen deutsche Unternehmen auch die scheinbar eindeutigen Variablen kaum zu beachten, wenn sie vor der Frage stehen, ob sie im Ausland produzieren wollen oder nicht. „Es überwiegen sehr pragmatische Ansätze, mit denen ein Favorit anhand relativ weniger Kriterien ausgewählt wird“ – das behaupten wenigstens die Karlsruher Wirtschaftswissenschaftler Steffen Kinkel und Christoph Zanker.

Seit 1995 erhebt das Karlsruher Fraunhofer-Institut für Systemtechnik und Innovationsforschung (ISI) Daten zum Thema Produktionsverlagerung. Die Hans-Böckler-Stiftung des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) finanzierte nun eine Studie, die sich mit Produktionsverlagerungen von mittelständischen Automobilzulieferern beschäftigte. Demnächst werden die Ergebnisse auch in Buchform veröffentlicht werden.

Kinkels und Zankers Datengrundlage war außerordentlich umfangreich: 256 Automobilzulieferer beantworteten die Fragen der Forscher; zudem dienten zwölf Unternehmen, die eine Produktionsverlagerung prüften, als detaillierte Fallstudien. Das Ergebnis: Viele Unternehmen unterschätzten die Schwierigkeiten und Kosten an Niedriglohnstandorten drastisch. Für viele der mittelständischen Unternehmen würde sich die Verlagerung nicht lohnen.

Im Bereich Automobilproduktion spielen deutsche Unternehmen eine wichtige Rolle auf dem Weltmarkt. Laut Zanker und Kinkel lassen sich drei wesentliche Motive unterscheiden, wegen der verlagert wird:

  1. Die Firma will ihre Kosten optimieren.
  2. Die Firma will auf neuen Märkten präsent sein.
  3. Ein wichtiger Kunde hat sich für die Produktion im Ausland entschieden, und stellt seinen Lieferanten vor die Wahl, entweder mitzugehen oder die entsprechenden Aufträge zu verlieren.

Der wichtigste Antrieb ist der Versuch, die Produktionskosten zu senken. Aber auch der zweite Fall trifft auf überraschend viele deutsche Unternehmen zu. Im Jahr 2004 gaben 40 Prozent der Befragten an, sie wollten durch die Verlagerung neue Märkte erschließen und näher an ihre Kunden heranrücken, während 80 Prozent glaubten, sie könnten durch Verlagerung die Kosten senken. Der Trend zu Produktionsverlagerung hält weiter an, auch wenn er sich wegen der augenblicklichen konjunkturellen Lage verlangsamt hat. Nach wie vor ist Osteuropa das wichtigste Ziel deutscher Unternehmen.

Die Produktion im Ausland ist allerdings durchaus nicht immer so profitabel wie erwartet. Ein typisches Problem sind wesentlich längere Anlaufzeiten als geplant: „Viele denken, wir gehen schnell mal nach Ungarn, und innerhalb eines Jahres kriegen wir das hin“, sagt Christoph Zanker, Mitautor der Studie und Diplom-Kaufmann. Oft dauert es doppelt so lange wie ursprünglich vorgesehen, bis die Produktion erwartungsgemäß läuft wie. Die Betreuung und Koordination der ausländischen Standorte und die Schulungskosten sind dagegen oft höher als gedacht, auch die Material- und Energiekosten sind häufig teurer als in Deutschland. Das Fazit: Die Koffer zu packen, hat sich für viele der untersuchten Unternehmen nicht gelohnt.

„Standortwahl ohne Qual!“

Während ihrer Untersuchung machten die Mitarbeiter des ISI die Erfahrung, dass Standortentscheidungen oft reichlich „hemdsärmelig“ getroffen werden, sagt Christoph Zanker. Die Möglichkeiten, mit den Investitionen die Produktivität in Deutschland zu steigern, würden oft gar nicht erst geprüft. Deshalb haben die Wissenschaftler des Fraunhofer-Instituts mit finanzieller Unterstützung der Hans-Böckler-Stiftung ein Programm entwickelt, mit dem sich die verschiedenen Standortfaktoren besser abwägen lassen.

Mit dem Software-Tool, das auf Excel basiert, lassen sich verschiedene Szenarien durchspielen: ein pessimistische, eine optimistische und eine realistische Variante. Es kombiniert betriebswirtschaftliche Ansätze wie den Kostenstrukturvergleich, die Investitionsrechnung und die Nutzwertanalyse. Für die Gewerkschafter entscheidend: „Optimierungspotenziale an bestehenden Standorten werden systematisch einbezogen.“ Zanker und Kinkel schätzen die außerordentlich hoch ein, an deutschen Standorten bestünden „immer wieder Produktivitätspotenziale von 15 bis 30 Prozent“.

„Standortwahl ohne Qual!“ - so preist das Institut das neue Computerprogramm an. Betriebsräte erhalten es kostenlos; ihnen wird damit eine Argumentationshilfe an die Hand gegeben, wenn ihr Unternehmen eine Verlagerung prüft oder bereits plant. Unternehmen dagegen bietet das Karlsruher Institut ein Komplettangebot samt Beratung und Eingabehilfe rund um das Tool. Controlling-Experten unterstützen die jeweiligen Manager bei der computergestützten Standortvergleichsrechnung. Nachfrage nach einer solchen Entscheidungshilfe besteht offenbar. Laut Zanker haben sich bereits einzelne Unternehmen, Berater und auch ein Industrieverband beim ISI gemeldet.

Christoph Zanker betont, dass es nicht darum gehe, Unternehmen die Entscheidung für oder gegen eine Verlagerung abzunehmen: „Wir wollen einfach auf ein paar Fakten hinweisen!“ So komplexe Vorgänge wie das Wirtschaftsgeschehen lassen sich natürlich nicht exakt berechnen, und die Entwicklung des polnischen Lohnniveaus beispielsweise nicht prognostizieren. Aber das Programm zeigt, welchen Einfluss das steigende Lohnniveau haben kann, und weist so auf Einflussgrößen hin, die sonst leicht unterschätzt werden.

Eine Variable hat auf die Szenarien, die sich mit dem Tool durchspielen lassen, keinen Einfluss: die Höhe der Steuern und Abgaben am Standort. Obwohl sie in der öffentlichen Debatte immer wieder als Grund fürs Abwandern genannt werden, spielen sie in Wirklichkeit für die Unternehmen „nur eine untergeordnete Rolle“, so Zanker.