Die große Filmsuche rund um die Welt

Das Wissen um unser filmisches Erbe ist zufällig und fragmentarisch

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Experten schätzen, dass bis zu 90% aller Stummfilme verloren sind. Bei Tonfilmen sieht es besser aus, aber die Verlustrate ist immer noch erschreckend hoch. Die EU will erreichen, dass gar nicht erst verloren wird, was später mühsam gesucht werden muss. Deutschland will wenigstens die Filme wiederfinden, von denen man weiß, dass es sie einmal gegeben hat.

Frankenstein

Der Name war Dettlaff, Al Dettlaff. Oder, ganz genau: Alois Felix Dettlaff Sr. Das war wichtig, denn Alois Dettlaff galt als schwierig. Durch ein unbedachtes, nicht von ihm autorisiertes „Al“ konnte man es sich schnell mit ihm verderben. Und wenn er einmal eingeschnappt war, hatte man es schwer, wieder mit ihm ins Gespräch zu kommen. Normalerweise hätte man ihn ausgelacht, aber Alois war wichtig, denn er besaß einen Schatz. Ende der 1970er holte er diesen Schatz aus dem Keller seines Hauses in Milwaukee und fuhr – alles sehr konspirativ – nach Los Angeles. Dort trat er als Geschäftsmann auf, der seinen Namen lieber nicht nennen wollte. Auf Vermittlung eines Bekannten von Forrest J. Ackerman (oberster Fan von Horrorfilmen in Amerika) wurde eine geheime Vorführung organisiert, bei der einige Auserwählte Dettlaffs Schatz sehen durften. Es war der Film No. 6604 aus dem Verleihprogramm von Thomas Alva Edison. Der erste (bekannte) Frankenstein-Film der Kinogeschichte.

Der frühe Film: erst zensiert und dann recycelt

Anfang des 20. Jahrhunderts nahmen in den USA immer mehr Interessengruppen Anstoß an dem, was auf der Leinwand zu sehen war und auch an den dunklen Räumlichkeiten, die - in der Phantasie der Tugendwächter - die Unmoral beförderten. Ein Zeichen setzte der Bürgermeister von New York, als er am 23. Dezember 1908 550 Lichtspieltheatern die Lizenz entzog. Andere Städte folgten. Kinobesitzer und Filmproduzenten zogen die Zensur dem Bankrott vor. Auf ihre Anregung hin wurde eine nationale Zensurbehörde gegründet, deren Entscheidungen sie sich unterwarfen. Dieses National Board of Censorship verbot durchweg die Darstellung von „brutalem und vorsätzlichem Mord, Überfällen, Selbstmord, Entführung, Diebstahl, [...] Szenen unmoralischer oder zweideutiger Natur“.

Die schwierige Aufgabe des Regisseurs J. Searle Dawley, eine 15-minütige Film-Version von Mary Shelleys Frankenstein-Roman zu drehen, wurde dadurch noch komplizierter. Der Titelheld durfte beim Schöpfungsakt auch keinen elektrischen Strom verwenden, weil Edison, der Erfinder der Glühbirne, es nicht leiden konnte, wenn man die Elektrizität in Misskredit brachte. Trotz dieser Einschränkungen gelang Dawley ein damals legendärer Schocker. Für die Laborszene baute er ein Pappmodell des Monsters, das angezündet und beim Verbrennen gefilmt wurde. Später ließ man das Filmstück rückwärts laufen und tönte es grellrot und orange. Fertig war die Erschaffung des Monsters. Dem Publikum machte das Angst. Mancherorts durfte der Film nicht gezeigt werden, oder er wurde heftig gekürzt. Mit Hinrichtungen, gestellt oder real, von Elefanten und Präsidentenmördern, ließ sich Geld machen. Wenn man Glück hatte, wurde man sogar für die Verdienste um die Wissenschaft oder den Patriotismus gelobt. Dawley verbrannte eine Pappfigur und ließ das dabei gedrehte Material rückwärts durch den Projektor laufen. Das war ein Affront. Edison sah sich bald gezwungen, das Werk aus dem Verkehr zu ziehen.

Topsy, der mittels Elektrizität getötete Elefant

Produktionen, die nicht profitabel waren, hatten geringe Überlebenschancen. Edison stellte im Durchschnitt 40 Verleihkopien eines Films her, bei Publikumshits auch deutlich mehr. Bei Frankenstein kann man nur spekulieren: wahrscheinlich wurden, in Erwartung eines großen Erfolges, etwa 100 Kopien angefertigt. Wenn ein Streifen sechs Monate lang gelaufen war, kam er meistens zurück ins Labor und wurde zerstört, um den Silberanteil des Filmmaterials zu extrahieren. Im März 1914 brach in Edisons Studio in der Bronx ein Feuer aus und zerstörte den Großteil der dort gelagerten Kopien und Negative. Frankenstein galt danach nicht einmal als verschollen. Es wurde schlicht vergessen, dass es den Film je gegeben hatte.

Gesucht und vorher schon gefunden: Frankenstein No. 1

Die Großmutter von Alois Dettlaffs Gattin war im Showbusiness tätig. In ihrer Bühnenshow trat sie als Indianerin auf, und zur Auflockerung zeigte sie kurze Filme – darunter eine Adaption von Longfellows Hiawatha und Dawleys Frankenstein von 1910. Als sie sich von der Bühne zurückzog, schenkte sie den Projektor und die Filme ihrem Sohn, der sie wiederum an seinen Sohn weitergab, Detlaffs Schwager. Dieser Schwager verkaufte das gesamte Filmpaket der Oma an einen Sammler, von dort wanderte es zu einem anderen Sammler. Diesen Herrn kannte Dettlaff, der viel Sinn für Familientradition hatte und die Filme zurückkaufte. Das war Mitte der 50er Jahre. Alois zeigte die stummen Filme seinen Kindern, weil er dachte, das würde ihnen – der Zwischentitel wegen – beim Lesenlernen helfen.

Von Edison sind Millionen von Dokumenten erhalten. Ausgewertet sind sie nur zum Teil. 1963 entdeckte ein Amateur-Filmhistoriker Edisons Verleihkatalog vom 15. März 1910. Auf dem Titelblatt war ein Photo von Charles Ogle als Frankensteins Monster zu sehen, und es gab eine Inhaltsangabe. Das Photo wurde in den nächsten Jahren in vielen Zeitschriften veröffentlicht. Dadurch erfuhr Dettlaff, was er da im Keller hatte. 1975 machte er mit Hilfe eines Freundes von dem alten Nitratfilm (inzwischen war er stellenweise um 8% geschrumpft) eine 16 mm-Sicherungskopie. Wieder ein paar Jahre später fuhr er damit nach Los Angeles. 1979 gab die Zeitschrift Clouds bekannt, dass Frankenstein wieder aufgetaucht war. Weniger gut informiert als viele Sammler waren die Archivare und Filmhistoriker des American Film Institute, und Clouds lasen sie auch nicht. Das AFI setzte Dawleys Frankenstein 1980 auf seine Liste der zehn „kulturell und historisch bedeutsamsten verlorenen Filme“. Später versuchte man, sich damit herauszureden, dass Dettlaff nur nach Los Angeles gefahren sei, weil er von den Plänen gehört habe, den Film auf die Liste zu setzen. Es gab auch Vermutungen, dass man hoffte, noch ein zweites Exemplar zu finden, um den von Dettlaff verlangten Preis zu drücken. Peinlich war die Sache in jedem Fall.

Forgotten Silver

Geschichten wie die von Alois Detlaff gibt es viele. Seine Frankenstein-Kopie ist bis heute die einzige, die gefunden wurde, und es brauchte viel Glück und eine Reihe von Zufällen, damit sie nicht verloren ging und ihre Bedeutung schließlich erkannt wurde. Die meisten anderen Stummfilme hatten keinen Alois Dettlaff und erst recht keinen ausgebildeten Konservator mit den entsprechenden Ressourcen. 85 bis 90% aller Stummfilme, so schätzt man, sind nicht erhalten. Über manche Apekte der frühen Filmgeschichte wissen wir weniger, als über die Pyramiden in Ägypten. So blieb es Christopher Rawlence vorbehalten, in seinem Buch The Missing Reel (1990) darüber aufzuklären, dass nicht Edison oder die Gebrüder Lumière die Kinematographie erfunden haben, sondern der unter mysteriösen Umständen verschwundene Franzose Augustin Le Prince. Und Peter Jackson hatte das schier unglaubliche Glück, neben der Witwe des vergessenen neuseeländischen Filmpioniers Colin MacKenzie zu wohnen. In MacKenzies Oeuvre entdeckte Jackson die erste Großaufnahme, die erste Kamerafahrt, einen der ersten Farbfilme und vieles mehr. In Forgotten Silver (1995) konnte er das mit zahlreichen Fragmenten belegen, die er extra für seine TV-Dokumentation gedreht hatte.

Das BFI sucht: die einen machen mit, die anderen nicht

Solche Mockumentaries wie die von Rawlence und Jackson haben einen sehr realen Hintergrund: Es ist durchaus möglich, dass es in den ersten Jahrzehnten der Filmgeschichte geniale Techniker und Regisseure gab, von denen wir überhaupt nichts wissen. Um nicht mehr ganz so sehr von Glück und Zufall abhängig zu sein, rief das British Film Institute Anfang der 1990er zur Suche nach den britischen Filmen auf, von denen man glaubte, dass sie verloren waren. 1992 erschien das Begleitbuch zur Suche, Missing Believed Lost: The Great British Film Search von Allen Eyles und David Meeker. Darin enthalten: die vorhandenen Informationen und Materialien zu knapp hundert verlorenen Filmen. Gesucht wurde u.a. nach Hitchcocks The Mountain Eagle, nach dem ersten britischen Film mit Erroll Flynn (Murder at Monte Carlo), nach 12 Filmen des großen Regisseurs Michael Powell und nach A Study in Scarlet, einer Sherlock Holmes-Verfilmung von 1914.

Das Buch enthielt außerdem den deutlichen Hinweis auf große Lücken in den Archiven der Fernsehanstalten. Davon betroffen war nicht nur Obskures, sondern beispielsweise auch die nicht mehr vollständig erhaltene TV-Serie Dr. Who, die in Großbritannien Kultstatus hat. Zu dieser Suche erschien 2001 ebenfalls ein Buch: Missing Believed Wiped von Dick Fiddy. In Sammlerkreisen reagierte man unterschiedlich auf die Initiative. Einige machten begeistert mit und brachten dem British Film Institute von ihnen aufgezeichnete Sendungen; andere hatten jegliches Vertrauen verloren und bewahrten ihre vielleicht einmaligen Bänder lieber selbst auf. Denn nun war offiziell bestätigt, was man bisher nur vermutet hatte: in den Archiven wurde Material vernichtet, weggeworfen oder einfach verschlampt. Für Unmut sorgte auch die Weigerung der BBC, die „Finder“ finanziell zu entschädigen oder sie, im Falle einer Veröffenlichung auf DVD, am Gewinn zu beteiligen. Als kleinen Ausgleich erhalten diejenigen, die etwas „zurückbringen“, Zugang zum BBC-Archiv. Dort dürfen sie sich etwas aussuchen, das sie in Kopie mit nach Hause nehmen möchten.

Geiz ist geil: Gründe für den Filmverlust

Theda Bara

Den Weltrekord in Sachen Verlorene Filme hält wahrscheinlich Theodosia Goodman, eine Schneiderstochter aus Cincinnati. Besser bekannt ist sie unter ihrem Bühnennamen Theda Bara (ein Anagram für „Arab Death“). Von 1915 an (A Fool There Was) verdrehte sie – unterstützt durch hyperbolische Werbekampagnen – den Männern den Kopf. Diese nach heutigen Schönheitsidealen stark übergewichtige femme fatale der Leinwand galt als so gefährlich, dass überall zur Schere oder gleich zum Zündholz gegriffen wurde. Von ihren mehr als 40 Filmen sind nur ungefähr dreieinhalb erhalten. Bei „verlorenen Filmen“ denkt man denn auch zuerst an Zensur. Andererseits geht in der freien Marktwirtschaft deutlich mehr verloren, als in einer Diktatur wie dem 3. Reich oder der DDR.

Stärker ins Gewicht fallen, statistisch gesehen, Faktoren wie die unsachgemäße Lagerung sowie die Sparsamkeit der Produzenten und deren Kurzsichtigkeit. Wenn Bänder wiederverwendbar waren, wurden sie wiederverwendet, zuvor Aufgezeichnetes dabei gelöscht. Mit Einführung des Farbfernsehens glaubte man vielerorts, sich die Kosten für die Archivierung des alten Schwarzweiß-Materials sparen zu können, weil man sich nicht vorstellen konnte, dass dieses Material noch einmal nachgefragt werden würde. Die Filmstudios erlagen einem ähnlichen Irrtum, als der Stummfilm durch den Tonfilm abgelöst wurde. Nitratfilme waren leicht entflammbar, die richtige Aufbewahrung war teuer. Wenn dann noch ein Feuer ausbrach wie 1937 in dem Lagerraum, in dem mehr schlecht als recht die Negative der Fox-Produktionen aus der Zeit vor 1935 gestapelt wurden, gerieten ganze Kapitel der Filmgeschichte in Gefahr, ausgelöscht zu werden.

Andere Versäumnisse des Kapitalismus entfalteten dagegen eine konservatorische Wirkung. In den USA gab es erst ab 1912 ein Copyright für Filme. Da diese aber aus vielen statischen Einzelbildern bestehen, schickten Produzenten ihre Ware in Form von photographischen Abzügen zum an die Library of Congress angegliederten Copyright Office, um sie registrieren und schützen zu lassen. Manche Firmen wählten besonders spektakuläre Szenen aus; andere, wie die von Edison, schickten für jedes einzelne Filmbild ein Photo (woraus man den Film wieder zusammensetzen kann). Die Paper Print Collection der Library of Congress verfügt heute über mehr als 3 000 frühe, mehrheitlich amerikanische Filme. Doch der Frankenstein von 1910 ist nicht dabei.

Trotzdem ist es gut möglich, dass irgendwann noch eine zweite Kopie auftauchen wird. Die frühen Produzenten hatten die irritierende Angewohnheit, ihren Filmen keine Titel beizugeben. Viele Kinobetreiber und Filmvorführer suchten sich deshalb einen Titel aus, der ihnen gefiel. Ab 1908 wurde die Lage übersichtlicher, aber nicht überall und nicht zu jeder Zeit. Archivaren hat das schon viel Kopfzerbrechen bereitet. Dafür kann es vorkommen, dass sich in einer ganz anders beschrifteten Filmbüchse ein verloren geglaubtes Werk findet. Und natürlich gibt es auch Filme, die in die falsche Büchse gesteckt wurden.

Archivare gegen Archivare

Mitunter sind die Archivare selbst das Problem. Viele von ihnen sind kollegial, hilfsbereit und auskunftsfreudig. Es gibt jedoch auch solche, die nicht teilen wollen und die nicht begriffen haben, dass sie eine häufig mit Steuergeldern finanzierte Sammlung verwalten, die nicht ihr Eigentum ist. Manchmal gibt es gut nachvollziehbare Gründe dafür, dass sie schweigen, während andere suchen. Oft haben Archive nicht das Geld für Sicherungskopien und wollen ihre wertvollen Einzelstücke vor Transportschäden und Abnutzung schützen. Es soll aber auch schon weniger hehre Motive dafür gegeben haben, dass seltene Filme in Geiselhaft genommen wurden. Und was passiert, wenn ein Archiv sich zu einem Film bekennt, der auf rechtlich nicht ganz unbedenklichem Wege in die Sammlung gekommen ist (hin und wieder die einzige Möglichkeit) und so die Begehrlichkeiten eines Rechteinhabers weckt? Oft bricht schon dann das große Schweigen aus, wenn einer nur behauptet, dass er die Rechte besitzt. Vieles spielt sich nach wie vor in einem juristischen Graubereich ab, und eine Besserung ist nicht wirklich in Sicht.

Das BFI brauchte auch aus diesen Gründen viel Optimismus, als es zur gemeinsamen Suche nach dem verschollenen Filmerbe aufrief. Gerüchten zufolge hat man inzwischen einige der Filme von der Liste gefunden (ganz oder teilweise), darunter His Lordship und The Man Behind the Mask von Michael Powell. Aber schon bei Film Nr. 7 der chronologisch geordneten Liste, Reveille (1924) von George Pearson, wird es wieder schwierig. Ein Stück daraus wurde in einer TV-Dokumentation gesichtet. Seither lässt sich trefflich darüber streiten, ob der gesamte Film entdeckt wurde oder nur dieses Fragment. Die Webseite des BFI schweigt sich dazu aus. Bei wiedergefundenen TV-Produktionen ist man weniger geheimniskrämerisch (gute Übersicht für Fernsehserien). Das heißt aber nicht, dass jetzt alles gezeigt werden kann, was schmerzlich vermisst wurde. Denn vieles von dem, was wieder auftaucht, tut das nicht allein, sondern hat nicht enden wollende Streitereien um die Urheberrechte im Schlepptau.

Wenig ist besser als gar nichts: Deutschland schützt sein Erbe

Obwohl die Briten einige Rückschläge hinnehmen mussten, wäre es schön gewesen, wenn sich spätestens 1992 (und eigentlich viel früher) auch andere Länder zu einer vergleichbaren Initiative durchgerungen hätten. Aber man tut sich schon sehr schwer damit, wenigstens das Verschwinden der Filme, die man noch nicht verloren hat, zu verhindern. Das ist nicht zuletzt ein Problem der öffentlichen Wahrnehmung. Zumindest der Kinofilm ist mittlerweile als Kulturgut anerkannt, doch der Schrift gegenüber muss er noch gewaltig aufholen. Als Beleg dafür kann das Medienecho dienen, das gerade wieder die aufgebauschte Nachricht von der angeblich geplanten Verbrennung von Vladimir Nabokovs letztem Romanmanuskript findet. In einem Artikel für die Welt hat Hanns-Georg Rodek den Bundestag und Bernd Neumann, unseren Staatsminister für Kultur, dazu aufgefordert, sich endlich um die Sicherung der noch existierenden Filme zu kümmern. Verglichen mit dem Getöse um das Nabokov-Manuskript spielten sich die veröffentlichten Reaktionen, die er dafür erhielt, in einem statistisch nicht mehr erfassbaren Bereich ab.

Auf Anregung der Unesco gibt es inzwischen alljährlich einen „Tag des audiovisuellen Erbes“, zwischen dem Tag der Kartoffel und demnächst bestimmt dem Tag des Eisbären. Und seit 2001 kann man der „Europäischen Konvention für den Schutz des audiovisuellen Erbes“ beitreten. Deutschland zögert noch. Bei uns gibt es seit 1969 wieder eine Abgabepflicht für Bücher. Verlage müssen bei der Deutschen Bibliothek Pflichtkopien zur Katalogisierung und Archivierung abliefern. Eingeführt hatten eine solche Regelung die Nazis (1935). Das bringen die Gegner jetzt gelegentlich als Argument, wenn angeregt wird, die Pflichtkopie – wie von der EU gefordert - auf das Medium Film auszudehnen.

Deutschland wird aktiv: auch wir haben jetzt Lost Films

Das Bundesarchiv bietet Filmschaffenden seit Jahrzehnten eine kostenlose Hinterlegung von Filmen an. „Anliegen und Angebot eines Wissens- und Gedächtnisspeichers“, heißt es dazu in einer Aussendung, konnten „jedoch nicht dauerhaft in deren Bewusstsein verankert werden.“ Das hat vielleicht mit mangelndem Vertrauen der Filmschaffenden in die Archivare zu tun, und bestimmt auch mit der Finanzkalkulation der Produzenten: die Hinterlegung von Kopien mag kostenlos sein – die Herstellung dieser Kopien ist es nicht. Immerhin haben sich Bund und Länder darauf verständigt, wenigstens die öffentlich geförderten Filme irgendwo zu hinterlegen. Aber die entsprechenden Bestimmungen sind meistens schwammig und von Föderanstalt zu Förderanstalt ganz verschieden. Niemand weiß, wie, wann und in welchem Umfang die Produzenten ihren Verpflichtungen nachkommen. Weil man aus Erfahrung klug wird, formulieren manche Förderanstalten jetzt präzise. Die Pflichtkopie muss technisch einwandfrei sein, archivierfähig und im Originalformat. Übersetzt heißt das: Viele Produzenten waren bisher der Meinung, dass eine verschlissene, mehrfach gerissene und notdürftig reparierte Kopie, die man vorher über die Dörfer geschickt hat, voll ausreicht, bei 35 mm-Kinofilmen gerne auch in der 16 mm-Version.

Frohe Kunde kommt aus der Welt der bereits verlorenen Filme. Die Deutsche Kinemathek hat unter Zuhilfenahme von MediaWiki ein Projekt gestartet, das man auch im Internet besuchen kann: www.lost-films.eu. Das Projekt will die verschollenen Filme identifizieren (niemand kann genau sagen, welche und wie viele das sind), Material zu ihnen sammeln, möglichst viele wiederfinden (in Archiven, bei Privatleuten und bei Firmen) und das, was noch übrig ist, vor weiterer Zerstörung bewahren. Auf der Seite, auf der die Deutsche Kinemathek das Projekt vorstellt, wird die Initiative des BFI erwähnt. His Lordship und The Man Behind the Mask von Michael Powell werden weiter zu den verschollenen Filmen gezählt. Ist es also tatsächlich nur ein Gerücht, dass sie gefunden wurden, oder weiß man in Berlin auch nicht so recht, was in London im Archiv liegt? Da ist noch viel zu tun.

F. W. Murnau ist mit einigen Titeln auf der Liste vertreten und Fritz Lang ebenso. Der Sieger (1931/32) mit Hans Albers ist verschwunden, Yorck (1931) von Gustav Ucicky und Helmut Käutners Käpt‘n Bay-Bay von 1953. Wer gerade die DVD-Edition von Robert Siodmaks Der Mann, der seinen Mörder sucht bestellt hat, wird sich zunächst wundern, auch diesen Film auf der Liste zu finden, dann aber feststellen, dass er für sein Geld nur eine auf 50 Minuten gekürzte Version des orginalen Rühmann-Films mit dem Titel Jim, der Mann mit der Narbe bekommt, auch wenn auf der Verpackung etwas anderes steht.

Ein Zeuge hat ein Fragment von Murnaus Marizza, genannt die Schmuggler-Madonna in Rom im Haus eines Sammlers gesehen, der es für sich behalten will. Wer sich zu Murnaus The Four Devils durchklickt erfährt, dass in den 1940ern eine Kopie des Films gesehen wurde, in einem Lagerhaus der Fox in Los Angeles (hoffentlich war es nicht dasselbe Lagerhaus, das schon 1937 abbrannte). Offenbar wurde die Kopie der Hauptdarstellerin Mary Duncan ausgehändigt, die den Film später verbrannt oder im Swimming Pool versenkt haben soll. Mary Duncan starb in den 1990ern. Niemand scheint zu wissen, wer geerbt hat und was die Erben vorfanden. Durch die Website gerät man außerdem an einen Verweis auf Janet Bergstrom, die Murnaus (vermutliches) Meisterwerk mit Hilfe der überlieferten Materialien vorbildlich rekonstruiert hat. Es wäre schön, wenn man so etwas irgendwann auch für die anderen verlorenen Filme finden würde, vielleicht sogar auf der Lost Films-Website. Die Arbeit hat soeben erst begonnen, das wird also noch kommen. Bis es so weit ist, würde man sich auch für die verschollenen Werke deutscher Filmkünstler ein Buch wie die Dokumentation des BFI wünschen: Verschwunden, aber vielleicht noch nicht verloren.

Sammeln kann tödlich sein

Und Alois F. Dettlaff, der Bewahrer von Frankenstein? Er verstrickte sich in einen Kleinkrieg mit potentiellen Käufern und glaubte sich von Raubkopierern umzingelt, die ihm seinen Film wegnehmen wollten. 1986, nach langen Verhandlungen, stellte er der amerikanischen Filmakademie eine „Copyright-geschützte“ Version seines Schatzes in Aussicht. Bei diesem Kuhhandel versprach man ihm eine Auszeichnung für seine Leistungen als Film-Konservator. Im Rahmen der Oscarverleihung sollte Frankenstein der Welt feierlich präsentiert werden. Als auf die Ankündigung keine Taten folgten, ließ die Academy verlauten, man habe Frankenstein nicht in den dramaturgischen Ablauf des Abends einbetten können. Mit knapp 13 Minuten war der Film von der Most Wanted List des AFI leider zu lang. Man hätte Frankenstein unterbrechen oder eine Werbepause verschieben müssen, und überhaupt: das Publikum wollte Preisträger sehen, keine alten Schinken in Schwarzweiß.

Es sagt eine Menge über das Selbstverständnis der amerikanischen Filmakademie, dass man ausgerechnet auf diese Ausrede verfiel – und auch über das Image dieser Institution, denn die Ausrede der Academy wurde nicht weiter in Frage gestellt. Der wirkliche Grund dafür, dass die Sensation nicht stattfand, dürfte dieser gewesen sein: Jedes einzelne Bild der von Dettlaff zur Verfügung gestellten Kopie war in der Mitte – sehr groß - mit dem Hinweis versehen, dass es sich hierbei um sein Eigentum handele.

Am 30. Oktober 1993 kam es in einem Kino in Dettlaffs Heimatstadt Milwaukee endlich zur langersehnten Wiederaufführung des Frankenstein-Films von 1910. Im April 2003 durfte man ihn in New Jersey sehen. Das war der Auftakt zu einer äußerst erratischen DVD-Auswertung, die Dettlaffs Firma “A. D. Ventures, International“ nun in Angriff nahm. In einem Akt der Selbstbeschränkung hat er nur die linke untere Ecke der Filmbilder mit seinem Logo verunstaltet. Dazu gibt es eine Art Vorspann (Dettlaff tritt als „Father Time“ auf), nach dessen Ansicht man peinlich berührt ist. Auf jede verschickte DVD scheint mindestens ein frustrierter Käufer zu kommen, der noch immer auf die Sendung wartet, obwohl sein Scheck längst eingelöst wurde.

Am 26. Juli 2005 fand man Dettlaffs Leiche. Er war 84 Jahre alt geworden. Jetzt lag er halb verwest im Badezimmer. Ob er tot umgefallen war, oder ob er auf dem Boden seines Badezimmers hilflos auf das Sterben gewartet hatte, ist genauso unklar wie der Verbleib der Nitratkopie von Frankenstein. Seine Tochter und sein Schwiegersohn, die schräg gegenüber wohnten, hatten den alten Herrn seit einem Monat nicht mehr gesehen. Man muss nicht so weit gehen wie die Anti-Rauch-Kampagnen, die vom Krebs zerfressene Lungen zeigen. Aber vielleicht sollte man auf der Lost Films-Website wenigstens die Geschichte von Alois F. Dettlaff erzählen – als abschreckendes Beispiel sowie als Kooperationsanreiz für eigenbrötlerische Archivare und widerspenstige Sammler.