"Ein Szenario, das die ägyptische Gesellschaft bis in ihren Kern erschüttert"

Nach den tödlichen Ausschreitungen nach einem Fußballspiel werden Vorwürfe laut, wonach die Gewalt von langer Hand geplant wurde

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Dass Fußballspiele in Ägypten außergewöhnlich gewalttätige Ausschreitungen zur Folge haben können, erfuhr eine größere Öffentlichkeit im November 2009, als die ägyptische Mannschaft die Qualifikation gegen das algerische Team verlor. Auch damals wurden die Auseinandersetzung über das Fußballfeld hinaus geführt: Die diplomatische Vertretung Algeriens sah sich von einem Aufmarsch ägyptischer Fans bedroht. Was gestern im Stadion in Port Said passierte ("Das ist Krieg und kein Fußball") hat jedoch eine ganz andere Dimension. Für die Tageszeitung al-Masry al-Youm wertet das gestrige Chaos mit über 70 Toten und geschätzten 1000 Verletzten als "Szenario, das die ägyptische Gesellschaft bis in ihren Kern erschüttert". Dabei gehe es nicht um Hooliganismus, sondern um Politik.

Schon während des Spiels sind Anhänger des Clubs al-Masri auf das Spielfeld gerannt, um ein Tor gegen den favorisierten Club al-Ahli zu feiern - ein Zeichen dafür, dass die Sicherheitsmaßnahmen bei dem Spiel, das im Vorfeld als "Treffen der Vergeltung" ausgerufen worden war, nicht auf der Höhe der Anforderungen eines solchen Matches waren. Richtig brutal wurden es nach dem Abpfiff, der Außenseiter hatte mit 3:1 gewonnen, der Platz wurde von heranlaufenden Männern gestürmt, wie dies auf Videos zu sehen ist, schnell entwickelten sich erste Schlägereien. Laut Augenzeugen wurden Fans des Clubs al-Ahli regelrecht gejagt.

Wie bei anderen Gewalteskalationen, die sich seit dem Rücktritt Mubaraks ereigneten, steht das Verhalten der Sicherheitskräfte in der Kritik. Die Vorwürfe von Augenzeugen lassen keinen Zweifel daran, dass die Angriffe auf die Fans des Clubs al-Ahly von der Polizei begünstigt, wenn nicht gar aktiv unterstützt wurden:

One tweeter, Ahmed Gaffar (@Heemalization), an eyewitness present at the scene, described what happened. "Police opened the way for hordes of Masry fans to reach us… when Ahly fans tried to run away they found exits which are normally open at the end of the match were locked." The fans found themselves stuck in a corridor "6 x 10 metres in size" crushing many

When the gates, he said, collapsed the ensuing stampede resulted in more deaths. The security forces, Gaffar added, only started firing shots to disperse the Masry fans "20 minutes after the incident" when deaths had already occurred.

Das Zitat stammt aus einem Bericht von al-Ahram, dort finden sich noch andere, ähnliche Aussagen, wie auch im Bericht der Zeitung al-Ahram:

"We were worried and pleaded with Central Security Forces to allow us to wait behind closed doors until things died down, while they kept telling us to leave," said Ahmed, an Ahly Ultras member who refused to give his full name due to the group’s no-media policy. When they completely refused to leave the stands, Central Security Forces opened the door to angry Masry fans, and that’s when the situation worsened, Ahmed added.

"Die Schuld hat einzig und allein die Polizei. Es waren Dutzende im Stadion, aber die sind plötzlich alle verschwunden oder haben gar nichts unternommen", kommentiert der portugiesische al-Ahli-Trainer Manuel José.

Doch gehen die Vorwürfe noch weiter: Der angreifende Mob sei durch angeheuerte Schläger verstärkt worden - die Angriffe auf die Ultras des Clubs al-Ahly sei von längerer Hand geplant gewesen, bestimmte Kreise hätten davon gewusst. Es sei doch kein Zufall, dass ausgerechnet bei diesem wichtigen Spiel der Gouverneur von Port Said sowie der städtische Sicherheits-Chef gefehlt haben, wo sie sonst doch kein Spiel versäumen würden.

Auch das Datum wird als Hinweis auf eine gezielte Aktion gedeutet. Heute hätte sich der Tag gejährt, an dem versucht wurde, die Demonstranten auf dem Tahrirplatz durch brutale gedungene Schläger auf Kamelen einzuschüchtern und zu verjagen. Ultras kamen den Demonstranten zu Hilfe.

Profitieren von den tödlichen Tumulten würden all jene Kräfte, die auf Chaos ("organized chaos") setzen, um darauf mit noch mehr Rigidität reagieren zu können, etwa mit der Wiederherstellung des zum Jahrestag der Revolution ausgesetzten Ausnahmezustandes, um die revolutionäre Bewegung, die noch immer lebendig ist, in die Knie zu zwingen. Wie immer fällt der Verdacht auch auf den Militärrat, dessen Verbindungen zu den alten Netzwerken offensichtlich sind. Vorgeworfen wird dem SCAF, dass er nicht genügend durchgreift, was als Einverständis gedeutet werden kann.

Das Parlament hat eine Krisensitzung einberufen. Die größte Fraktion, die "Freiheit und Gerechtigkeit"-Partei der Muslimbrüder erhebt in ihrer Stellungnahme ebenfalls Vorwürfe gegen Vertreter des alten Regimes und zielt dabei auch Richtung SCAF:

These are, evidently, the handiwork of domestic parties and dubious forces that still have strong ties with the former regime, which manages the sabotage scheme from the cells of Tora prison, taking advantage of a number of businessmen who were the pillars of the failed system and still enjoy freedom, despite the many crimes of corruption they are involved in, using their money and a number of print and broadcast media they own.