Einübungen in den Weltuntergang

Bild: © Warner Bros. Entertainment Inc. / DC Comics / Niko Tavernise

Hass, Wut und Soziopathie - Ansichten eines Clowns: Todd Philipps "Joker" ist Zeitgeist-Kino und verachtet die Comic-Mythologie

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You can’t make an omelet … without breaking some eggs.
Jack Nicholson als "Joker" in: "Batman" (1989)

Das eigentliche Thema ist der Hype um diesen Film. Der ist weitaus interessanter und viel viel erklärungsbedürftiger als der Film selbst.

Es ist mehr als bemerkenswert, dass die imdb immer noch auf die vollidiotisch hohe Wertung von 9.0 kommt, die US-Kritiker aber laut metacritic.com dagegen im Schnitt nur laue 59% Zustimmung geben. Während sich die deutschen Kritiker-Texte lesen, als hätten die alle den imdb-Score ausgefüllt - in Deutschland will Filmkritik "volksnah" sein, anstatt zu analysieren, scheint mir.

Diese ungewöhnlich hohe Zustimmungsrate verrät einiges über den Zeitgeist: Rache- und Revolutionsphantasien, vereint durch das in ihnen liegende Wutbürgertum, werden in diesem Film bedient, Verachtung für Rechtsstaat, Medien, Politik sowieso. Aber "Joker" sei doch "bloß" Unterhaltung, werden jetzt wieder viele einwenden. Eben! Als Konsument schluckt man Dinge bereitwillig, als Bürger ist man innerlich zu gelähmt, um sie zu bekämpfen.

Joker (21 Bilder)

Bild: © Warner Bros. Entertainment Inc. / DC Comics / Niko Tavernise

Aber selbst wer Joaqin Phoenix für ein Genie hält, muss blind sein, um über die Stärken des Films die Schwächen von "Joker" zu übersehen.

Dieser Hype funktioniere und passe deshalb in die Gegenwart, so der Filmwissenschaftler Marcus Stiglegger in einer Facebook-Mitteilung, weil "der Film eine vorstellbare Revolte gegen 'das Kapital' darstellt, die eben gerade nicht interessiert ist an einer gerechteren Umformung der Gesellschaft, sondern vor allem den Untergang selbst ersehnt. Gerade in den USA findet man ja nur ein sehr marginales Bewusstsein für linksintellektuelle Alternativen, aber umso mehr Lust am Zerschmettern mit der diffusen Hoffnung auf eine folgende Regeneration. Apokalyptik statt Revolution".

Schlechte Filme für schlechte Zeiten

Eine Comic-Verfilmung, die aussieht wie Autorenkino. Als Todd Phillips Film "Joker" vor vier Wochen beim Filmfestival von Venedig den Hauptpreis, den Goldenen Löwen gewann, hat das viele überrascht und einige erzürnt. Kann man einen 55 Millionen Dollar teuren Hollywoodfilm überhaupt mit den knappen Budgets des internationalen Kunstfilms vergleichen? Auch in den USA ist er schon vor seinem Start umstritten: Manche werfen ihm vor, er legitimiere Gewalt oder animiere sogar zu ihr. Zugleich gilt er schon jetzt als einer der Favoriten auf die nächsten Oscars. Jetzt kommt "Joker" in die deutschen Kinos.

Die Zeiten sind nicht gut. Jedenfalls nicht, wenn man das Kino ernst nimmt als Zeugnis unserer Kultur und ihres Zeitgeists. Und das ist Todd Philipps' "Joker" ohne Frage.

"Joker" ist keine schlichte Comic-Superheldenverfilmung, sondern der Versuch, den schillerndsten Gegenspieler von "Batman" in unsere Gegenwart zurückzuholen und "realistisch" neu zu erzählen: als Soziopathen!

Eine halbwegs plausible Diagnose ist damit so wenig verbunden wie Kritik. Dieser Film schlägt sich auf die Seite des traurigen Clowns und seiner Ansichten, maskiert ihn als "Anderen" der Gesellschaft, als Außenseiter, mit dem wir in all seiner Verworfenheit und Hässlichkeit und Kaputtheit, oder gerade wegen ihr, Mitleid haben sollen. Moralisch wie ästhetisch ist das problematisch. Ein gewalttätiger, psychopathischer Wutbürger wird zum Ventil der Erleichterung des Publikums.

"Everything must go!" - Clowns am Morgen der Revolution

Dieser Film beginnt mit Medien. Aus dem Off hört man die Worte eines Nachrichtensprechers. Die Rede ist vom Zustand von Gotham City: Alles sei vermüllt, "selbst die reichsten Gegenden sehen aus wie Slums". Das nächste Bild zeigt dann die Hauptfigur vor einem Spiegel. Die Finger greifen in seinen Mund, ziehen die Mundwinkel erst nach unten, danach nach oben. Trauer und Lachen - wie die berühmten griechischen Theatermasken. Der Mann trainiert Lachen und Lachmuskeln, denn er arbeitet als Clown, den man mieten kann.

Dann ein Schnitt: Das Bild zeigt nun eine Straße, an den Autos und der Werbung erkennbar 1970er Jahre. Viele Geschäfte haben offenbar Probleme, es gibt viele Ausverkäufe, "everything must go" steht auf einem Schild. Vor dem Geschäft ein Clown, der Werbung macht und ein Schild mit der gleichen Aufschrift trägt. Kurz darauf klaut ihm eine Gruppe Jugendlicher das Hinweisschild, es kommt zu einer Verfolgungsjagd, die dem Film die Möglichkeit gibt, uns ein paar Panorama-Shorts von der Innenstadt zu zeigen. Der Clown lässt sich in eine Seitenstraße locken, dort wird er brutal zusammengeschlagen. Dann erst, über dem Lachen des Zusammengeschlagenen, ist der Filmtitel zu sehen: "Joker".

Joker, der im Leben Arthur heißt, ist in fast jedem Bild dieses Films zu sehen. Er ist ganz und gar aus seiner Sicht erzählt, sogar im doppelten Sinn, denn dem, was wir hier sehen, ist nicht immer zu trauen. Arthur lacht vor einer Sachbearbeiterin des Sozialamts. Sein Lachen ist ein Weinen und sein Weinen ist ein Lachen - ein Wesen am Rande des Nervenzusammenbruchs.