Folterverbot mit ein wenig Ambivalenz

Der Europäische Menschenrechtsgerichtshof bekräftige im Fall Gäfgen absolutes Folterverbot, bescheinigte aber der deutschen Justiz ein faires Verfahren

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Der wegen Entführung und Mordes an dem Bankierssohn Jakob von Metzler zu einer lebenslänglichen Haftstrafe verurteilte Jurist Magnus Gäfgen ist am Montag mit seinem Versuch gescheitert, durch eine Neuauflage seines Verfahrens ein geringeres Strafmaß zu erreichen. Diesem Versuch waren auch von juristisch versierten Kommentatoren durchaus Erfolgsaussichten eingeräumt worden, besonders nach dem der Gerichtshof seine Zuständigkeit bejaht und von der Bundesregierung eine Stellungsnahme angefordert hat.

Dem in der JVA Schwalmstadt inhaftierten Mann war bei seiner ersten Vernehmung auf Anweisung des Stellvertretenden Polizeipräsidenten von Frankfurt/Main Wolfgang Daschner die Zufügung erheblicher Schmerzen angedroht worden, wenn er den Aufenthaltsort des entführten Kindes nicht preisgebe. Der hohe Polizeibeamte gab an, zu diesem Zeitpunkt noch davon ausgegangen zu sein, dass das entführte Kind leben würde und durch die Angaben gerettet werden könnte. Nach dieser Drohung legte Gäfgen ein Geständnis ab und nannte auch das Versteck des toten Kindes.

Auf Grund dieses Geständnisses stellte die Polizei weitere Beweise sicher. Das durch die Folterdrohung erwirkte Geständnis wurde im Prozess nicht berücksichtigt. Das Urteil stützt sich vielmehr auf ein erneutes Geständnis, das Gäfgen während des Prozesses machte. Allerdings konnten die Beweismittel, die die Polizei nach dem ersten Geständnis erhoben hat, im Verfahren verwertet werden. Hier setzen Gäfgen und seine Verteidiger bei ihrer Klage an. Mit der Androhung von Schmerzen seien seine Grundrechte verletzt worden. Da sich das lebenslängliche Urteil auf Beweissicherungen stützt, die erst durch das nach den Folterdrohungen zustande gekommene Geständnis zustande kam, verstoße es gegen die Europäische Menschenrechtskonvention.

Lob für deutsche Justiz

Dieser Lesart schloss sich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte nicht an. Einerseits unterstrich es noch einmal das absolute Folterverbot „unabhängig vom Verhalten des Beschwerdeführers und selbst dann, wenn die Misshandlung dem Zweck dienen soll, Informationen zur Rettung von Menschenleben zu erlangen“. Das Gericht glaubte Gäfgen auch, dass er durch die Drohungen „nicht unerhebliches, seelisches Leid“ erfahren habe. Wäre die Drohung umgesetzt worden, wäre das einer Folter gleichgekommen. Doch Folgen für das Urteil wollte die Kammer daraus nicht ableiten.

Mit sechs gegen eine Stimme befand das Gericht, dass Gäfgen nicht mehr behaupten konnte, Opfer einer Verletzung von Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention zu sein, der das Verbot der Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung festschreibt. Es habe in seinem Fall auch keine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren vorgelegen. Im Gegenteil bescheinigte der Gerichtshof der deutschen Justiz, gegen Gäfgen ein faires Verfahren geführt zu haben. Die deutschen Gerichte hätten auf verschiedene Weise deutlich gemacht, dass die Drohungen gegen Gäfgen keine erlaubten Vernehmungsmethoden waren. Das Geständnis sei nicht verwertet worden und die an der Folterdrohung beteiligten Polizei seien bestraft worden (Schwere Nötigung: Schuldig, aber keine Strafe). Allerdings fiel das Urteil gegen Daschner sehr milde aus, weil ihm bei der Folterdrohung ehrenhafte Motive unterstellt wurden (Folter bleibt in Deutschland ohne Strafe).

In einem Abschnitt beschäftigte sich das Gericht mit den mittelbar durch die Drohungen erzielten Beweismittel:

Der Gerichtshof schlussfolgerte ..., dass unter den besonderen Umständen des Falles des Beschwerdeführers, und insbesondere in Anbetracht der verlässlichen Beweismittel (die infolge der polizeilichen Beobachtung des Beschwerdeführers seit der Lösegeldabholung verfügbar waren), die infolge des erpressten Geständnisses erlangten Beweismittel lediglich von unterstützender Natur für die Verurteilung des Beschwerdeführers waren. Ihre Verwertung hat daher die Verteidigungsrechte nicht ausgeschlossen und das Verfahren nicht insgesamt unfair gemacht.

Hier wird da Urteil widersprüchlich. Einerseits die klare Missbilligung jeglicher Folter und schon der Drohung damit, andererseits die schließlich doch gebilligte Verwendung der mittelbar durch diese Drohung erzielten Beweise. Diese Inkonsequenz kennt man in Deutschland auch in dem Umgang mit Beweismitteln, beispielsweise von der türkischen Justiz. Einerseits wird anerkannt, dass dort Aussagen auch mit wenig rechtsstaatlichen Mitteln erzielt werden. Andererseits werden von der türkischen Justiz übermittelte Beweismittel auch in hiesige Verfahren gegen türkische Linke eingeführt.

Wunsch nach kurzem Prozess

Die Diskussionen um den Fall Gäfgen werden in der Öffentlichkeit auch nach dem Urteil nicht verstummen. Das zeigten auch die Reaktionen auf das Urteil. Als „sachliches Urteil“, das den Rechtsfrieden wieder herstellt, wurde es im Deutschlandradio kommentiert. Auf Spiegel-Online wies der Jurist und Experte für Europäisches Strafrecht Dr. Ali B. Norouzi kritisch darauf hin, wie in dem Urteil mit dem Problem der durch die Folterdrohung erlangten Beweismittel umgegangen wird:

Im amerikanischen Strafprozess gibt es eine Doktrin, die allegorisch von einem vergifteten Baum spricht, der keine genießbaren Früchte hervorbringt. Hierzulande hat sich die Rechtsprechung bislang verweigert, solch eine "Fernwirkung" anzunehmen. Das muss sie auch weiterhin nicht.

Doch es gab auch weniger sachliche Stimmen. So zeigte sich die CDU-Fraktion im hessischen Landtag nicht nur durch das Urteil erleichtert, sondern würzte ihre Stellungnahme mit einem gehörigen Schuss Populismus:

Damit erhält Gäfgen nach dem geschmacklosen und moralisch fragwürdigen Unterfangen mit der Kinderstiftung auch keine weitere Gelegenheit, Familie und Angehörige wie auch die Öffentlichkeit mit seiner hässlichen und verabscheuungswürdigen Tat zu konfrontieren. Gäfgens persönliches Schmierentheater hat jetzt hoffentlich für allemal ein Ende. Wir haben für derartige juristische Scharmützel auf Kosten des Rechtsstaats kein Verständnis, zumal die Schuld des Kindsmörders Gäfgen eindeutig geklärt ist.

Wenn die in einem Rechtsstaat auch jedem verurteilten Straftäter zustehenden juristischen Schritte als Schmierentheater bezeichnet werden, ist der Wunsch nach dem kurzen Prozess deutlich herauszuhören. Dieser Wunsch begleitete die veröffentlichte Meinung beim Fall Gäfgen. So gab es in großen Teilen der Bevölkerung durchaus Zustimmung zur Folterdrohung des stellvertretenden Polizeipräsidenten. Auch der damalige Bild-Kolumnist Oskar Lafontaine äußerte Verständnis.

Menschenrechtsvereinigungen, die vor der Aufweichung des Folterverbots warnten, hatten es schwer, in einer emotional aufgeheizten Stimmung, Gehör zu finden. Insofern ist es zu begrüßen, dass der Europäische Gerichtshof das absolute Folterverbot noch einmal bekräftigt hat. Dass er aber die Verwertung der Beweismittel erlaubte, die erst durch das mit den Drohungen bewirkten und später für nichtig erklärten Geständnis gefunden wurden, schränkt diese klare Aussage doch wieder ein.

Auch in der jetzt häufig zu lesende Einschätzung, dass mit dem gestrigen Urteil der Fall Gäfgen juristisch beendet sei, ist wohl der Wunsch nach dem Ende des langen Prozesses Vater des Gedankens. Tatsächlich ist Gäfgen zuvor schon durch alle Instanzen der deutschen Justiz gegangen und hat verloren. Doch der Weg zur Großen Kammer in Straßburg steht ihm und seinen Anwalt weiterhin offen.