Home-Office: E-Mailen rund um die Uhr, um am Ball zu bleiben

Hobby, Internetsucht oder schlicht unbezahlte Arbeit?

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Mails haben immer etwas Drängendes, sie wollen beantwortet werden. Am besten, so das Signal, das mit dem Ankunftston unterschwellig verknüpft wird, umgehend. Es braucht einen gewissen Aufwand an Distanzierung und Contenance, um sich diesem Appell zu verweigern - einen Augenblick, um sich bewusst zu machen, dass die Welt auch bei einer späteren Antwort von größeren Katastrophen verschont bleiben könnte. Ist man zuhause oder unterwegs mit Arbeitgebern verbunden, so ist der Reflex stärker, umgehend zu reagieren. Zu beinahe jeder Zeit, ein paar kleine Reizworte im Mail genügen, um den Druck zu erhöhen.

Das kann zu enervierenden Situationen führen, die später nette kleine Geschichten abgeben. Aber auch für handfesten Krach zuhause sorgen, wenn unbeaufsichtigte Kleinkinder ihrem Forschungs-oder Verdauungsdrang nachgeben und der Miterziehungsberechtigte seinerseits mit Notebook, Telefon oder anderer Kommunikationstechnologie zugange ist oder wenn er/sie ganz einfach nur veralteten Träumen wie etwa ungestörtem Familienleben nachhängt. In der Summe kann das zur Belastung werden.

Wie die australische Wissenschaftlerin Melissa Gregg in Interviews mit Beschäftigten aus “Information industries“, die teilweise zuhause arbeiten, herausgefunden hat, werden solche Belastungen zwar eingeräumt, die Quellen dafür aber in Weichzeichner-Licht gesehen. Abfragen und Versenden von Mails hielten die Befragten nämlich nicht für Arbeit:

The participants said that they disagree with the belief that checking and sending the emails from home, constituted the work. But they agreed that the mails constantly invading the evenings and weekends, potentially affected the family relationships.

Das Hobby „Mailen“ wird, wie Gregg in ihren Interviews erfuhr, zuhause quasi rund um die Uhr betrieben; manchmal im Verborgenen, versteckt vor Partnern und Kindern - etwa wie heimliche Zigaretten beim Müllraustragen:

The study also showed that workers were checking email at night in bed and as early as 6am before children woke, that they could focus on "real work" in office hours. Gregg says that people were trying to hide from the partners and kids to spend time checking emails. They also used to check the mails on non-work days to „keep the things moving“.

Auch wenn Mailen als Bestandteil der Arbeit nicht wirklich ernstgenommen werden, so wird doch der Aufwand, der damit verbunden wird, zugestanden. Das ist im Gespräch zwischen Kolllegen so und zeigt sich auch in der Untersuchung: Wie sonst käme man auf die Begründung, man mache das mal schnell zuhause, damit man sich im Büro dann der echten Arbeit ( "real work" in office hours) zuwenden könne. Zugestanden wird auch, dass dies einer Ambition dient, die erfüllen will, was die Arbeitleistung, auf neudeutsch Performance, gegenwärtig wesentlich mitdefiniert: Präsenz, oder sportlich locker formuliert "am Ball bleiben"

Besonders Eltern in Teilzeit-Anstellung halten die E-Mail-Zugänge an ihren arbeitsfreien Tagen offen. Sie tun das, um am Ball zu bleiben und um Kontakte mit Vollzeit-Anstellung nicht unnötig aufzuhalten.

Gewerkschaftler strikter alter Schule nennen das unbezahlte Arbeit. Therapeuten und Lebensgefährten könnten auf das neue Wort „Internetsucht“ setzen. Für Melissa Gregg, die ihren PHD im Feld „Gender und Cultural Studies“ gemacht hat, ist das ein neuzeitliches„strukturelles Problem“ - das in Beziehung gerückt werden kann mit der Selbstausbeutung von kreativen Subkulturen, die auch hierzulande vor einigen Jahren Thema war.

Die Phänomene, die laut der Studie in Zusammenhang mit den geschilderten Arbeitsweisen auftauchen, sind alte Bekannte: klassische Auslöser der modernen Berufskrankheiten, Überbelastung und Stress. Bemerkenswert ist, dass auch Greggs Studie eine Beobachtung unterstreicht, die im Zusammenhang mit Arbeit im „Home-Office“ öfter auftaucht (siehe "Produktiver, aber isoliert und unglücklicher"): das schlechte Gewissen, das sich zuhause durch das Fehlen von Bürostrukturen (feste Mittagspausen etc.) ungehinderter aufdrängt und größere Leistungsbereitschaft einfordert – E-Mails müssen sofort beantwortet werden:

The people who worked entirely from home felt enormous pressure to be diligent by answering emails immediately, to prove they were not relaxing somewhere else when they are supposed to work.

Melissa Gregg hat sich auf neue Arbeitsweisen unterstützt durch neue Kommunikationstechnologien und soziale Netzwerke, die auch die Grenzen zwischen Büro und Privaten neu verschieben, spezialisiert. Ihr Forschungsprojekt heißt „Working From Home: New media technology, workplace culture and the changing nature of domesticity“. Ihr Blog: Homecookedtheory.com.