"I hate so much"

Kühler Hass vereint die jungen Amokläufer und Selbstmordattentäter

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Amokläufer nennt man die Menschen wie den 25-jährigen Kanadier Kimveer Gill aus Verlegenheit, die sich mit einem Waffenarsenal ausrüsten und dann in den Privatkrieg ziehen, um mit einem finalen Spektakel ihr Leben zu beenden. Man könnte sie genauso gut als Selbstmordattentäter beschreiben, die im Unterschied zu den islamistischen „Kollegen“ nur einen Auftrag haben, nämlich sich selbst noch einmal in Szene zu setzen, um sich und die anderen Menschen mit dem Tod und der Angst zu konfrontieren. Schließlich machen sie oft genug auch zuvor „Märtyrervideos“ in Form von Filmen, Webseiten oder anderen dokumentierten Äußerungen oder agieren wie die berühmt gewordenen Columbine-Täter auch vor Überwachungskameras. Vermutlich kann man annehmen, dass auch viele islamistische Selbstmordattentäter zwar in einem irgendwie politisch-religiösen Kontext zu ihrem Anschlag motiviert werden, aber auch sie wollen ein Zeichen mit einem blutigen Endspektakel setzen und müssen letztlich alleine mit ihrer Wut, Angst und Verzweiflung so weit gehen, bis es kein Zurück mehr gibt. Allerdings wird die Welt derzeit von Selbstmordattentätern und Amokläufern überschwemmt, so dass die mediale Aufmerksamkeit schrumpft und die Zeitspanne der „Prominenz“ immer kürzer wird.

Ob in den Nachrichten, in Büchern und Filmen oder in politischen und theoretischen Überlegungen, überall lassen sich Darstellungen von geschehenen, möglichen oder ganz fiktiven Terroranschlägen finden. Anders als Kriege sind Anschläge in jeder Form leichter auszuführen, da sie schon mit geringem Aufwand und auch von Einzelpersonen mit guten Erfolgschancen realisiert werden können. Mittlerweile leben besonders die jüngeren Menschen in den realen und fiktiven Szenarien von solchen Anschlägen, die jeder Zeit und an jedem Ort möglich sind und jeden treffen können. Die Imagination ist vollgesogen von den Skripts, während die Öffentlichkeit über Medien und Politik darauf ausgerichtet ist, ihre Aufmerksamkeit auf gelungene, also medial wirksame Anschläge, die in irgendeiner Hinsicht herausragen, zu richten. Dadurch genießen Anschläge und ihre Täter nationale, oft auch globale Prominenz, auch wenn sie zeitlich noch so kurz sein sollte. Da Prominenz in der Aufmerksamkeitsgesellschaft, wie man die „Wissensgesellschaft“ auch charakterisieren könnte, einen hohen Wert genießt, der auch mit Einkommen verbunden ist, könnten Anschläge für diejenigen, die nicht die gesellschaftlich konformen, dem Anschein nach jedem offenstehenden Karrieren der Aufmerksamkeitsgesellschaft beschreiten können, zur Möglichkeit zu werden, den Protest gegen diese Gesellschaft mit der dominanten Vorstellung eines außergewöhnlichen Ereignisses und der Erlangung von Prominenz zu verbinden. Gefährlich an dem Amalgam von (medialer) Aufmerksamkeit und Prominenz ist, dass darüber auch die für Menschen als kollektive Wesen lebensnotwendige Anerkennung als Person verbunden ist. Wer sie nicht erfahren hat, kann für sich und nach dem herrschenden Skript eben auch für andere zum Sprengstoff werden.

Kimveer Gill: „Ready for action“

In Montreal suchte Kimveer Gill mit seinem Auftritt im College ganz offenbar in den Tod. Er wollte sich in eine auswegslose Lage bringen, um erschossen zu werden oder schließlich sich selbst töten zu können. Gekleidet in einen schwarzen Mantel und ausgestattet mit drei Schusswaffen, hatte er schon vor dem College zu schießen begonnen und war schließlich in die Cafeteria eingedrungen, um dort wild um sich zu schießen. Eine junge Frau starb, 20 Studenten wurden teils schwer verletzt. Gill wurde angeblich durch das schnelle Auftauchen der Polizei gestört. Er wollte die Studenten, die auf dem Boden Deckung suchten, aufscheuchen, so dass sie um ihr Leben rennen sollten, während er ihren „Todesengel“ spielen wollte. Nachdem Gill im Arm getroffen wurde, erschoss er sich selbst.

Aus seinem Blog auf der Gothic-Website vampirefreaks.com und aus anderen Einträgen auf Webseiten – unter anderem mit dem Email-Account rogue_warrior_50@yahoo.ca - wird deutlich, dass er sich für das Massaker in der Columbine-Schule interessierte. Hier hatten 1999 zwei schwer bewaffnete Schüler, die ebenfalls Trenchcoats trugen, 13 Menschen und dann sich selbst getötet. Er erklärte, dass er das Computerspiel „Super Columbine Massacre“ mochte und hatte sich auf zahlreichen Fotos mit Gewehr und Mantel, mit einem Messer und anderen aggressiven Posen dargestellt. Auf einem Bild hatte er sich bereits einen Grabstein mit der Inschrift gemacht: "Lived fast died young. Left a mangled corpse." Allgemein schätzte er, was dunkel, morbide oder gewalttätig in der Pop- und Medienkultur von Marilyn Manson über das Computerspiel Doom bis hin zu entsprechenden Filmen ist, was er selbst in Kleidung, Haartracht und Posen kokettierend umzusetzen suchte.

Wie aus seinen Äußerungen hervorgeht, verachtete der selbst ernannte „Todesengel“ die meisten Mitmenschen und schrieb, dass in ihm „Ärger und Hass schwelen“. Leben sei wie ein Computerspiel, schrieb er, man müsse eines Tages sterben. „Life sucks“ oder „Fuck the World“, sind Sprüche des jungen Mannes, der auch seine Vorliebe für Massaker, Trenchcoats und Zerstörung deutlich machte. Bevor er zu seinem finalen Schauspiel loszog, schrieb er noch um fünf Uhr in der Früh in seinen Blog: „Die Gesellschaft widert mich an.“ Auf einem Fragebogen antwortete Gill auf die Frage, wie er sterben will: „Wie Romeo oder Julia – oder in einem Kugelhagel.“ Wenn schon das Leben trotz aller Bemühungen und Versuche, es aufzuladen, gewöhnlich blieb, sollte wenigsten der Tod zum Höhepunkt bzw. zu einem Showdown werden, nicht zu einem Dahinsiechen. Ansonsten scheint er eben jenen Hass kultiviert zu haben, den US-Präsident Bush nicht in den „homegrown“ Amokläufern, sondern in den islamistischen Terroristen als einzige Antriebskraft verortet, die irgendwie das schöne Leben nach US-Modell ablehnen.

Kimveer Gill: „Life sucks“

I hate this world
I hate the people in it
I hate the way people live
I hate god
I hate the deceivers
I hate betrayers
I hate religious zealots
I hate everything

I hate so much

(I could write 1000 more lines like these, but does it really matter, does anyone even care)

Look what this wretched world has done to me

Kimveer Gill am 15. März 2006

Wie üblich wurden andere durch Gills Tat angeregt, diese nachzuahmen, zumindest aber sich in der Pose zu üben, die Macht und Aufmerksamkeit durch Verbreitung von Angst stiftet. So schrieb ein 15-Jähriger aus einer Kleinstadt in der kanadischen Provinz Ontario ebenfalls auf Vampirefreaks.com, dass für ihn Gill ein „Heiliger“ sei, auch wenn sein Massaker dilettantisch durchgeführt wurde. Er drohte an, es besser in seiner Westwood High School in Hudson zu machen und so das Vorbild zu überbieten, die erwartungslose Haltung zur Welt und die Verachtung der anderen Menschen teilt er offenbar:

The police are still wondering what his motive was, but it's so obvious. He was sick and tired of the way things are run, he merely did the best he could by shooting at random people. I don't think he qualifies for such a good title as Angel of Death. He was not very skilled at ending lives and only killed one person. This will happen at Hudson High School Senior, and when it does, I can't wait to die, or help in the process.

Kimveer Gill: “Me again, hope this pic didn't scare anyone too much”

Weitaus weniger Aufsehen als der kanadische Attentäter hat die Festnahme von drei jungen Männern im Alter von 17 bzw. 18 Jahren Ende der letzten Woche in den USA gefunden. Sie wollten ebenfalls eine Wiederholung des Columbine-Massakers an ihrer Schule veranstalten und hatten dazu ein Waffenlager mit neun Gewehren, 20 selbst fabrizierten Bomben, Messer und einem großen Vorrat an Munition eingereichtet. Dazu gab es Tarnkleidung, Gasmasken und Funkgeräte. Nach ihren ersten Aussagen hatten sie sich schon seit Jahren auf das geplante blutige Spektakel vorbereitet.

Sie hatten vor, wie Medien berichten, Bomben in der Nähe der Toiletten zu zünden und die Aus- und Eingänge mit einer Napalm-ähnlichen, ebenfalls selbstgemixten Substanz in Brand zu setzen, so dass niemand die Schule verlassen konnte, um so in aller Ruhe dem Morden nachgehen zu können. Ein Mitschüler hatte den Plan der Polizei verraten. Zum Üben hatten die waffenversessenen Jugendlichen, die ebenso wie Gill in Kanada keine Probleme mit dem Erwerb und Besitz von Waffen hatten, Köpfe von Kleiderpuppen benutzt, auf die sie schossen. Die Polizei hat angeblich auch Selbstmordankündigungen gefunden. Die zwei zuerst Festgenommenen, die des versuchten Mordes und der Verschwörung zum Brandlegen beschuldigt werden, wurden als depressiv bezeichnet. Beide sind extrem dick und wurden angeblich, wie eine der Mütter sagte, von ihren Mitschülern verhänselt. Ihr 150 kg schwerer, zudem lernbehinderter Sohn sei von anderen als fett und dumm bezeichnet worden. Dadurch seien sie von Wut erfüllt und bis an die Grenze des Erträglichen getrieben worden. Während die beiden einen Selbstmordanschlag vorhatten, scheint der dritte Festgenommene, der das Collge bereits verlassen hat, mit diesen zwar über Anschlagspläne gesprochen und mit den Brandsätzen experimentiert zu haben, aber wollte angeblich nicht sterben, weswegen er vorgeschlagen haben soll, an der Schule vorbeizufahren, auf sie zu feuern und dann unterzutauchen.

Auffällig ist immer wieder, dass die Anschläge, die von den Jugendlichen ausgeführt werden oder geplant wurden, keineswegs spontane Handlungen sind, sondern sie wurden langsam vorbereitet und organisiert, entspringen also nicht einem erregten, sondern einem kühlen Kopf. Möglicherweise wird zunächst gedanklich gespielt mit Szenarien und überhaupt mit der Vorstellung, wie sich das Ende in Abweichung oder Überbietung von bekannten Skripts zelebrieren lässt. Die Täter müssen keineswegs die Einzelgänger sein, wie man sie gerne kategorisiert, vielleicht aber verbinden sich die mit kalter, aber nicht verglimmender Wut aufgeladenen Einzelgänger auch nur strategisch mit anderen zu einer Art Todesschwadron, weil das den geplanten Selbstmordanschlag einfacher und zwingender werden lässt. Wenn den jungen Menschen dabei Szenen oder Bilder aus der Wirklichkeit, aus Computerspielen, Filmen, Büchern, Musik oder was auch immer vor Augen schweben, so werden dann von den Experten gerne die geläufigen Ursachen genannt, wie dies auch im Hinblick auf Gill der Fall war:

If you want a hypothesis perhaps this young person was living a sort of simulated life, that he had lost sight of the boundaries between the fictional and the real. He was so immersed in a media culture where the films he consumed, the video games he played, the music he listened to and the goth culture he supposedly inhabited became for him the spectrum of his little identity world. If anything he was a living a simulated life. He's stepped into the screen, acted out a fictional self and created a real tragedy.'

Pädagogikprofessor Michael Hoechsmann an der McGill University

Die Szenarien kommen eben auch aus der realen Welt und es ist müßig, hier die Frage nach Henne und Ei zu stellen. Seitens der Erklärer wird normalerweise die „Schuld“ an der entschlossenen und kalten Exekution von Gewalt, die tatsächlich eher nach (Computer)Spiel oder surrealistischem Kunsthappening aussieht, entweder an bestimmte Einflüsse der Außenwelt (Filme, Computerspiele etc.), an Vernachlässigungen und/oder psychopathologischen Eigenschaften der Täter gelegt, die zudem als „loser“ gelten. Das ist ganz parallel zu den Erklärungen, warum die islamistischen Terroristen Selbstmordanschläge begehen. Da wird dann gerne von Verführung und eben vom Hass auf die Freiheit, auf die westliche Welt, auf die USA gesprochen. Aber diesen Hass auf diese Gesellschaft haben nicht nur Islamisten oder andere, irgendwie durch eine Ideologie verblendete Menschen, sondern auch junge Menschen in den USA, in Großbritannien oder in Deutschland.

Es ist eine Form des Aufbegehrens gegen das Falsche und Verkünstelte, gegen die Korruption und die Macht, gegen das Mitschwimmen in einem Leben, in dem nichts wirklich erwartet wird, in dem man weitermacht, weil es so ist. Die Revolte, dass es die Katastrophe ist, wenn es so weiter geht, ist wohl ein genuin jugendlicher Impetus, der auch leicht eingefangen und wie in manchen muslimischen Zirkeln zur Gewaltausübung instrumentalisiert werden kann, zumal bei Menschen, die schlechte Erfahrungen machen mussten, ausgegrenzt werden oder nicht mithalten können. Der Gewalt wohnt der Anschein von Pathos und Macht inne, sie scheint die Welt zu klären, eindeutig zu machen, der eigene Tod als Märtyrer bringt eine Kompromisslosigkeit mit sich, die schon immer mit den Anspruch auf oder dem Wunsch nach Wahrheit und Wahrhaftigkeit verbunden war. Geht man aber einmal davon aus, dass junge Menschen, gleich ob sie als Terroristen oder als Amokläufer auftreten, von ähnlichen Motiven getrieben werden, von einem Hass auf diese Gesellschaft, wie sie jetzt ist, dann würde man vielleicht auch sehen, dass der „Krieg gegen den Terrorismus“, die Elimination der Terroristen und alle Sicherheits- und Überwachungsmaßnahmen gegenüber der No-Future-Generation im weltanschaulichen Osten und Westen nichts ausrichten werden, wenn nicht in erster Linie eine Zukunft eröffnet wird, für die sich ein Einsatz zu lohnen scheint und die auch ein Abenteuer verspricht, einen Gang ins Neue. Die jungen Amokläufer und Selbstmordattentäter, die oft oder gar meist nicht aus armen Schichten stammen, sind vermutlich nur die Spitze eines Eisbergs, der sich mit Antiterror-Dateien, Überwachungskameras, Spezialeinheiten oder Präzisionsraketen nicht beseitigen lässt, aber dessen Fantasien sich in Filmen, Musik, Posen und Computerspielen, aber auch einer Politik des Hasses einen Ausdruck finden und sich verstärken.