Im Schatten von Afghanistan: Türkei bombardiert in Nordostsyrien und Nordirak

Marienkirche in Tell Nasri (auch: Til Nasri), 1,5 km südlich von Tell Tamer (kurd: kurdisch Til Temir) im Gouvernement al-Hasaka. Foto: Elke Dangeleit

Das Schweigen Europas ermutigt die türkische Regierung in ihrem aggressiven Agieren

Die mediale Aufmerksamkeit ist derzeit auf Afghanistan konzentriert. Die türkische Regierung nutzt dies zu massiven Angriffen auf die nordsyrische Zivilbevölkerung im Gebiet der demokratischen Selbstverwaltung und deren militärische Einheiten der SDF (Syrian Democratic Forces, Demokratische Kräfte Syriens) sowie der nordirakischen ezidischen (auch: jesidischen) Selbstverteidigungseinheit YBS.

Nordsyriens Christen in Gefahr

In der letzten Woche hat die türkische Armee mit ihren Drohnen, Panzern und Artillerie Gebiete in Nord- und Ostsyrien wiederholt bombardiert. Dabei wurden mehrere Zivilisten und kurdische Angehörige der SDF getötet. Das von Christen bewohnte Khabur-Tal steht derzeit besonders im Fokus der türkischen Angriffe.

Diese Region und die aktuellen Geschehnisse haben eine historische Dimension, denn 1933 ließen sich dort die Nestorianer (Assyrer aus Hakkari) nieder. Sie waren dem Völkermord an 1,5 Millionen Armeniern und Christen 1915-1918 unter Verantwortung der jungtürkischen Regierung, bei dem auch etwa 500.000 Christen, darunter 300.000 Assyrer, starben, entkommen. Der Völkerbund in Genf sprach ihnen zum Schutz das Siedlungsgebiet im Khabur (auch: Chabur) -Tal zu. Die Nestorianer gründeten dort 33 Dörfer, aber auch chaldäische Christen siedelten sich in weiteren drei Dörfern an.

Bis 2011 lebten in der Region etwa 20.000 assyrische Christen - Nachfahren der Überlebenden des Völkermords. Heute sind es kaum noch 1.000 Christen, meistens ältere Menschen, die verstreut in den fast menschenleeren Dörfern leben. Die meisten flohen vor dem IS und den anderen dschihadistischen Terrormilizen ins Ausland, viele migrierten nach Kanada, Australien oder in die USA. Mittlerweile leben einige hundert Binnenvertriebene aus anderen Regionen des Landes in Tell Tamer (kurd.: Til Temir) und den anderen verlassenen Dörfern.

Die aktuelle Bombardierung und Eroberung der christlichen Dörfer durch die Türkei und ihrer Dschihadistenmilizen treibt nun die Christen und die Binnenvertriebenen erneut in die Flucht. Diese Zerstörung und Vertreibung wird in Europa nicht wahrgenommen. Oder nimmt man den Exodus der Christen hin, um weiter in Erdogans Gunst zu bleiben?

Einige wenige Beispiele mögen aufzeigen, was sich seit geraumer Zeit dort abspielt:

Anfang letzter Woche wurde das Umspannwerk der christlichen Kleinstadt Tell Tamer im Khabur-Tal bombardiert. Am Tag davor wurde eine 30-jährige Frau aus dem assyrischen Dorf Til Shanan von einer türkischen Granate verletzt.

Am vergangenen Donnerstag wurde das Kommunikationszentrum des Militärrates von Tell Tamer von einer türkischen Drohne bombardiert. Vier Angehörige des Militärs kamen dabei ums Leben, darunter die bekannte Kommandantin Sosin Birhat, die von Beginn an den sogenannten "Islamischen Staat" (IS) an vorderster Front bekämpfte. Im Februar 2015 wurden sie vom IS überfallen, viele Bewohner wurden verschleppt oder ermordet, Frauen entführt und Kirchen gesprengt.

Der Angriff wurde von der Türkei unterstützt, indem diese den Wasserzufluss in der Türkei manipulierte, damit die IS-Terroristen angreifen konnten und die Bewohner an der Flucht gehindert wurden. Dennoch gelang vielen die Flucht nach Hasaka und Qamischli (kurd.: Qamishlo).

Nachdem Tell Tamer und die anderen christlichen Dörfer im Juni 2015 vom IS befreit wurden, gelang es christlichen Organisationen mit Rückkehrprojekten Exil-Christen wieder ins Land zu holen. Seit der erneuten türkischen Invasion im Oktober 2019, bei der die Grenzstadt Ras al-Ain (kurd.: Serekaniye) annektiert wurde, wurden erneut im Khabur-Tal zusätzlich dreißig christliche Dörfer nördlich von Tell Tamer von islamistischen Milizen erobert. Sechs Kirchen wurden von türkischen Drohnen komplett zerstört, andere schwer beschädigt.

Die von der Türkei bezahlten und ausgebildeten Milizen stammen aus Terroristengruppen wie dem IS, al- Nusra oder Ahrar al-Sham. Der assyrische Militärrat "Wächter des Khabur" sieht deshalb in den jüngsten Angriffen der Türkei und ihrer islamistischen Milizen eine "Fortsetzung des IS-Terrors".

Die "Wächter des Khabur" kritisierten die fehlenden Reaktionen der internationalen Gemeinschaft. Die in Tell Tamer stationierten syrischen Truppen und die russischen Militärs, die eigentlich zum Schutz der Christen in der Region dort stationiert sind, glänzen ebenfalls durch Untätigkeit. Der Ko-Vorsitzende des Rates der Stadt Tell Tamer, Ciwan Mele Eyup, befürchtet, dass sich die Türkisierung und Islamisierung vom nordwestlichen Kanton Afrin und dem 2019 besetzten Ras al- Ain (kurd.: Serekaniye) und Tall Abyad (kurd.: Gire Spi) in den christlichen Dörfern des Khabur Tals fortsetzen könnte. Er berichtete der kurdischen Nachrichtenagentur ANF:

Es gibt keinen Tag, an dem die Bevölkerung nicht mit Panzern und Granaten angegriffen wird. Wohnhäuser und Felder werden in Brand gesetzt. Die Angriffe auf die Dörfer bei Til Temir und in der Gemeinde Zirgan sind seit einer Woche intensiviert worden. Darunter leidet die Zivilbevölkerung. Viele Menschen haben ihr Leben verloren, Dutzende wurden verletzt.

Ciwan Mele Eyup

Der assyrische Militärrat warnt, durch die Vertreibungspolitik der Türkei würden ihre Bemühungen, christliche Familien wieder ins Land zu holen, konterkariert.

Türkische Kampfdrohnen bombardieren weitere Region Nord- und Ostsyriens

Neben dem Angriff auf Til Temir am letzten Donnerstag bombardierte eine türkische Drohne ein Fahrzeug der Autonomen Verwaltung Nord- und Ostsyriens auf der Straße von Qamischlo nach Amude. Ein führendes Mitglied der kurdischen Einheit YPG der SDF getötet.

Am letzten Sonntag wurde ein Militärfahrzeug im Dorf Himo im Westen der Stadt Qamischlo von einer türkischen Drohne beschossen. Das Fahrzeug parkte in der Nähe eines medizinischen Zentrums. Militärquellen aus Qamishli berichteten von einer bis Sonntagabend noch unbekannten Anzahl von Verletzten. Es sei das vierte Mal, dass türkische Drohnen innerhalb von weniger als 72 Stunden militärische, medizinische und zivile Zentren im Nordosten Syriens angegriffen haben.

Am vergangenen Wochenende forderten mehr als dreißig politische Parteien und Gruppierungen in Nord- und Ostsyrien die internationale Gemeinschaft auf, Maßnahmen gegen das Regime in Ankara zu unternehmen. Das Nato-Mitglied Türkei begehe im Windschatten des Afghanistan-Konflikts in Nord- und Ostsyrien und Nordirak Kriegsverbrechen.

Die Politik der Türkei sei auf Völkermord ausgelegt und richte sich hauptsächlich gegen die kurdische Bevölkerung in Nord- und Ostsyrien wie auch im Nordirak, sowie gegen religiöse Minderheiten. Diese Politik destabilisiere die Region noch mehr, hieß es in der Erklärung.

Das Handeln der Türkei richtet sich gezielt gegen die Sicherheit in unseren Regionen, den Willen der Völker und ihre legitimen Rechte. Wir verurteilen diese Angriffe und lehnen das ohrenbetäubende Schweigen der internationalen Gemeinschaft ab…

AFN

Türkische Drohnen bombardieren ezidisches Siedlungsgebiet im Nordirak

Im Nordirak richten sich die Angriffe überwiegend gegen die religiöse Minderheit der Eziden im Shengal. Der IS verübte dort 2014 an den Eziden einen Völkermord. Tausende Menschen wurden ermordet, Frauen und Kinder verschleppt und auf Sklavenmärkten verkauft. Noch heute sind fast 2.000 Frauen vermisst.

Anfang letzter Woche bombardierte die Türkei auf dem Marktplatz von Shengal-Stadt ein Fahrzeug der nordirakischen ezidischen Militäreinheit YBŞ, bei dem der bekannte Kommandant Said Hassanund sein Neffe ums Leben kamen. Ein weiterer hochrangiger YBŞ-Kommandant wurde verwundet.

Die YBS "gehört der mehrheitlich aus schiitischen Verbänden gebildeten Allianz der Volksmobilisierungseinheiten (PMU) an, die im Sommer 2014 von Bagdad zum Kampf gegen den 'Islamischen Staat' (IS) aufgestellt wurde. Als Kommandant des 80. Bataillons der PMU war der selbst aus Sindschar stammende Hassan damit auch Offizier der irakischen Streitkräfte."

Daher ist dieser Anschlag auch als Angriff auf die Souveränität des Irak zu betrachten. Said Hassan befand sich auf dem Weg nach Kocho im Süden des Shengal-Gebietes. Dort war er mit dem irakischen Ministerpräsidenten Mustafa Al-Kadhimi verabredet. Al-Kadhimi, der sich zum Zeitpunkt des Anschlags auf dem Weg nach Shengal befand, verurteilte den Angriff. Die türkische Regierung betrachtet die YBS wie auch die nordsyrischen kurdischen Einheiten der SDF als Ableger der PKK. Bedauerlicherweise wird diese Propaganda der gleichgeschalteten türkischen Medien auch immer wieder unhinterfragt von deutschen Medien übernommen.

Am Dienstag letzter Woche wurde in Shengal Stadt ein Krankenhaus bombardiert, bei dem acht Menschen ums Leben kamen. Telepolis berichtete bereits über die Angriffe. Das Krankenhaus, das sich in einer ehemaligen Schule befand, wurde völlig zerstört.

Als Retter die verschütteten Menschen bergen wollten, erfolgte ein zweiter Luftschlag. Der bei dem Anschlag auf das Fahrzeug am vergangenen Montag verwundete YBS-Kommandant wurde zur Behandlung in dieses Krankenhaus gebracht. Medienberichten zufolge überlebte er auch diesen Anschlag.

Die zahnlose Verurteilung des Angriffs durch den irakischen Ministerpräsidenten Al-Kadhimi wird Erdogan wenig beeindrucken. Er weiß, dass der wirtschaftlich angeschlagene Irak auf die Türkei angewiesen ist.

Schon 2016 wies Erdogan Proteste des damaligen irakischen Regierungschefs Haider al-Abadi wegen der zunehmenden Stationierung türkischer Soldaten im Nordirak zurück: "Du hast nicht meinen Rang... Benimm dich", "Du bist nicht mein Kaliber, du hast auch nicht meine Qualität", kanzelte er die Kritik al-Abadis ab. "Ihn kümmere nicht, was al-Abadi "schreie" zitierte dw den türkischen Präsidenten. "Wir werden weiterhin tun, was wir denken, tun zu müssen"...,die türkische Armee brauche "keine Belehrung" von ihm.

Das Schweigen Europas ermutigt die türkische Regierung in ihrem aggressiven Agieren in ihren Nachbarländern noch zusätzlich. Den Kurden und Eziden erweist Europa damit einen Bärendienst.