Judentum und Pazifismus

Eine Spurenlese gegen den Strich - zugleich ein Beitrag zum jüdisch-christlichen Dialog unter friedensbewegtem Vorzeichen

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Ernst Tollers Theaterstück "Nie wieder Friede" von 1936 ist - getarnt als Komödie - schon Vorbote einer Verzweiflungstat. Pazifisten sind tragische Gestalten und gehören zu allen Zeiten einer aussterbenden Spezies an. Warum sollte man ihrem utopischen - weil nirgends nachhaltig verankerten - Realismus Gehör schenken? Die richtige Antwort auf diese Frage kommt in der Regel zu spät und bleibt auch dann immer nur kurz im Gedächtnis der politischen Klasse haften. Der bestechliche Teil der Pazifisten wird alsbald rekrutiert zur Vorbereitung des nächsten Kriegsäons. Der Rest sollte sich warm anziehen, bevor es im Anlauf zum Zerfetzen von Menschenleibern erneut heißt: "Nie wieder Friede!"

Wenn sich im Weltkriegs-Jubiläumsjahr 2014 angesichts von revisionistischen Geschichtsvernebelungen und einer unverdrossenen Remilitarisierung der Politik solche trüben Gedanken einstellen, suche auch ich nach Schuldigen. Schuld sind die fehlenden Pazifisten in den großen Parteien, im Bürgertum, in den wissenschaftlichen Eliten, in den maßgeblichen Medienredaktionen ... und in den Kirchenleitungen. Ihr Nichtvorhandensein ist verantwortlich dafür, dass sich der Antikriegsprotest merklich in populistische und rechts-esoterische Foren hinein verlagert.

Der bedrückende Tiefstand von Republik und bürgerlicher Geisteskultur im Zeitalter der neoliberalistischen "Pragmatik" zeigt sich vorzüglich in dem Umstand, dass der empirisch leicht nachweisbare Bankrott des militärischen Heilsglaubens allenthalben unterschlagen wird und pazifistische Dissidenten nicht einmal mehr als geduldete Außenseiter zu Wort kommen. Dies sollte jeder denkende Mensch als gruselig empfinden.

Trost gibt es in der Geschichte wenig zu finden. Vor den Weltkriegen und dann wieder 1945 gab es mannigfache Hoffnungen, man könne durch einen anderen geistigen Überbau - insbesondere durch eine aus der Aufklärung gespeiste Frömmigkeit des Rechts - alles zum Guten wenden. Doch die Basis des Weltgeschehens blieb kriegerisch, und der geistige Überbau wurde es im Handumdrehen auch wieder.

Das Ende des kalten Krieges hätte einer Ära der kooperativen Intelligenz den Weg bahnen können. Das Übermaß an Menschenverachtung, das nicht nur die von interessierter Seite protegierten Gewalt-Islamisten, sondern zuvorderst ihre westlichen Beförderer seit dem Golfkrieg 1991 auf die Bildschirme gebracht haben, ist zu schwer erträglich, als dass es unserem Gedächtnis stets präsent sein könnte. Wer möchte da das Wort "Zivilisation" noch in den Mund nehmen?

Wer sich im Bewusstsein des zivilisatorischen Ernstfalls im Europa der Gegenwart zu Wort meldet, findet sich alsbald in die Kategorie "Putin-Versteher" eingereiht. Gegen die Dummheit der tagespolitischen Spaßmacher, denen es nun wirklich nicht mehr ums Verstehen geht, kämpfen einige Autoritäten der alten Republik vergebens. Der politische Wetterhahn zeigt wieder nach rechts.

Wie sollten wir angesichts dieser Entwicklung erwarten, dass sich ausgerechnet in dem symbolträchtigen - und deshalb global durchaus sehr bedeutsamen - Israel-Palästina-Konflikt die Dinge zum Besseren hin entwickeln? Betreiber und Profiteure von Gewalteskalationen kommen wohl kaum als Ratgeber wider die Gewalteskalation in Frage.

"Schwerter zu Pflugscharen" - Was sich Religionen zu sagen hätten

Der nachfolgende Beitrag soll keine Lösungen präsentieren, sondern ist Ergebnis einer friedensbewegten Spurenlese in bekümmerten Tagen. In der ersten Woche des Gaza-Krieges 2014 kam mir die, an sich allgemein bekannte, Tatsache wieder in den Sinn, dass der Pazifismus in unserem Kulturkreis - zumal im deutschsprachigen Raum - ohne eine Würdigung der jüdischen Inspirationen und Beiträge nicht darstellbar wäre. Selbst die Sowjetunion hat 1959 bei ihrem Geschenk einer Friedensskulptur an die Vereinten Nationen im Bild den Propheten Micha zitiert:

Denn von Zion wird Weisung ausgehen [...]. Sie werden ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Spieße zu Sicheln machen. Kein Volk wird gegen das andere das Schwert erheben, und sie werden fortan nicht mehr lernen, Krieg zu führen.

Die für den Krieg instrumentalisierten Religionskomplexe sind ein trauriges Epiphänomen. Gleichwohl ist die naive These, die Religionen, zuvorderst die drei sich auf Abraham berufenden Religionen, seien die eigentliche Wurzel der Gewalt, außerordentlich weit verbreitet. Bezogen auf das Epiphänomen der "religiösen" Kriegsassistenz singe ich als Christ selbstverständlich auch John Lennons Liedstrophe: "Imagine thereʼs: no countries [...]. / Nothing to kill or die for / And no religion too!"

Bezogen auf die materielle Basis der Kriegsmaschine erhoffe ich mir indessen einen interreligiösen Dialog - zuvorderst zwischen den drei "abrahamitischen Religionen", der sich nicht in den üblichen rituellen Absagen an die Gewalt erschöpft. Glaubhaft wäre allein ein aktiver Widerstand gegen die Kriegsapparatur, von dem innerhalb der verfassten Religionen derzeit allerdings so gut wie gar nichts zu spüren ist.

Das Christentum, meine religiöse Heimat, ist immerwährend auf das geschwisterliche Gespräch mit dem Judentum angewiesen, weil es sonst, wie ungezählte Exempel der Geschichte belegen, die Verbindung zu Jesus von Nazareth verliert und sich in platonische Luftgefilde verflüchtigt. In diesem Dialog sollte es trotz aller Abgründe der Geschichte heute nicht mehr nötig sein, dass projüdische Pazifisten aus dem christlichen Spektrum stets betonen, keine Antisemiten zu sein. Dies ist auch eine Frage des Respekts und der gegenseitigen Achtung.

Notwendig ist hingegen die Erinnerung daran, dass sich der Pazifismus in unserem Kulturkreis, angefangen mit dem obligaten Pazifismus der ersten drei Jahrhunderte der Kirchengeschichte - jüdischen Wurzeln verdankt. Das im "christlichen Abendland" über siebzehn Jahrhunderte perfektionierte Kriegsmorden ist nicht nur ein Verrat an Jesus aus Galiläa, der unter den Bedingungen einer hochgerüsteten Besatzungsmacht und lange vor Mahatma Gandhi den alternativlosen Weg einer Intelligenz der aktiven Gewaltfreiheit aufgezeigt hat.

Vielmehr handelt es sich bei der abendländischen Kriegsbesessenheit ebenso um einen Abfall von der Religion der Propheten Israels, die den Glauben an Militärkomplexe als Wahn entlarvt haben und von den frühchristlichen Schriftstellern als Autoritäten betrachtet worden sind, die der gesamten Zivilisation eine Perspektive eröffnen. Jesaja und Micha beurkunden das im Interesse aller Menschen liegende "Urmodell der pazifizierten Internationale" (Ernst Bloch).

Mit Blick auf ihre Instrumentalisierung im Dienste der Kriegsgewalt hätten die Religionen und Konfessionen, die sich auf Abraham berufen, gegenwärtig allen Grund, einander ihre Bedürftigkeit offenzulegen und sich im Rahmen eines Bündnisses wider den militärisch-industriellen Komplex dabei zu helfen, den Blick auf die ursprüngliche Kunde wieder freizulegen: shalom.

Zwei unvermeidbare Unschärfen

Auf zwei unvermeidbare Unschärfen bezüglich der in dieser Spurenlese verwandten Begrifflichkeiten sei vorab hingewiesen. Im 19. und frühen 20. Jahrhundert war "Pazifismus" noch eine Überschrift für höchst unterschiedliche Standorte und Konzepte. Als Pazifist konnte z.B. auch gelten, wer eine internationale Schiedsgerichtsbarkeit einforderte, gleichzeitig aber trotz der modernen Massenmordtechnologien am Paradigma einer "Lehre vom gerechten Krieg" festhielt, welches der Lügenwalze des Krieges - bis zur Stunde - alle Straßen freimacht.

Durchaus problematisch ist in vielen Fällen auch die Bezeichnung "jüdischer Pazifist". Wer wie ich im 3. Jahrtausend unserer Zeitrechnung den Terminus "Rasse" bezogen auf die menschliche Familie kategorisch ablehnt (ebenso ein erbbiologisches Verständnis von "Volk") und sich insbesondere von den Definitionen der Rassenantisemiten radikal abgrenzen möchte, muss heute klarstellen, dass das Judentum eine religiöse Überlieferungsgemeinschaft ist.

Wenn ein Friedensdenker aus einer jüdischen Familie nun als "jüdischer Pazifist" bezeichnet wird, müsste also streng genommen in jedem Einzelfall nachgewiesen werden, dass zumindest irgendeine nennenswerte geistige Verbindung zur Überlieferungs- und Kulturgemeinschaft des Judentums besteht. (Analoges gilt trotz des Sonderfalls für alle "Konfessionsbezeichnungen".) Auf die vielschichtige Problematik, die sich unter den genannten Prämissen und mit Blick auf die Geschichte kaum befriedigend auflösen lässt, möchte ich hier lediglich aufmerksam machen.