Kampf der Kulturen: Echt jetzt?

Kommentar: Hinter dem Gerede vom Kulturkampf verbirgt sich oft dumpfer Rassismus. Die Bruchlinien verlaufen woanders

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Ein Vierteljahrhundert nach dem Erscheinen von Samuel P. Huntingtons "Kampf der Kulturen" (im Original unter dem weniger reißerischen Titel "Clash of Cultures") ist dieser vermeintliche Kampf in aller Munde. Und auf den ersten oberflächlichen Blick kann es tatsächlich scheinen, als habe Huntington Recht behalten: Dass globale Konflikte entlang kultureller "Bruchlinien" entstehen, dass die großen politischen Machtkämpfe zwischen den Blöcken der westlichen Welt, China und dem islamischen Kulturraum ausgetragen werden.

Doch das war schon Mitte der Neunziger falsch und vor allem grob vereinfachend. Kulturelle und nationalstaatliche Grenzen waren für Huntington mehr oder weniger absolut. Eine auch durch das Internet globalisierte Welt, in der kulturelle Übergänge fließend sind, war für ihn allenfalls in Ansätzen vorstellbar - und das wurde auch damals schon kenntnisreich kritisiert, von den logischen Brüchen und anderen Unzulänglichkeiten seines Theoriegebildes ganz zu schweigen.

Der Niedergang der westlichen Vorherrschaft

In einem anderen Punkt kam er der Wahrheit deutlich näher: Dem Niedergang der westlichen Vorherrschaft in der Welt, die nie auf den moralischen Ansprüchen von Werten sowie der theoretischen Überlegenheit des demokratisch-parlamentarischen Systems bestand, sondern auf militärischer und ökonomischer Gewalt sowie einem hegemonialen kulturellen Anspruch.

Bahman Nirumand sprach von "Menschenrechten als Alibi": Der Westen wird im Osten vor allem deshalb nicht ernstgenommen und anerkannt, weil das Gerede von Menschenrechten und Demokratie regelmäßig mit Ausbeutung, Bomben und der Unterstützung von Autokraten konterkariert wird.

Dass Kultur eine bestenfalls geringe Rolle im globalpolitischen Theater spielt, sobald es um Geld, Macht, Einfluss und geostrategische Interessen geht, zeigt das Verhältnis zu zwei Ländern im Nahen Osten. Das saudische Regime, das eines der repressivsten der Welt ist, wird von den USA und Europa hofiert.

Zugleich steht Iran immer wieder in der Schusslinie, wird mit Sanktionen überzogen und mit Krieg bedroht - was nicht zuletzt daran liegt, dass die iranischen den saudischen Interessen zuwiderlaufen. Dass Iran einst auf einem ziemlich guten Weg hin zu einer parlamentarischen Demokratie war und dass diese vom Westen zugunsten eines Militärregimes im Jahr 1953 weggeputscht wurde, hat man dort keineswegs vergessen.

Es ist eher so, dass Huntingtons Theorien zur selbsterfüllenden Prophezeiung wurden, was die weltpolitischen Konfliktlinien betrifft - weil sie so praktisch waren und sich nach dem Ende des Kalten Krieges eine ganze Menge westlicher Politiker und Thinktanks daran orientierten. Das führte dazu, dass heute, im Jahr 2019, nicht nur denkfaule Journalisten, sondern auch zahllose Menschen in aller Welt - und keineswegs nur die Rechtsradikalen mit ihrem identitären Gewäsch - den Kampf der Kulturen im Munde führen schon auf der simplen Ebene des Privaten.

Was macht eigentlich kulturelle Unterschiede aus?

Wenn es zum Beispiel um die hanebüchene Erkenntnis gehen soll, dass Menschen aus unterschiedlichen Kulturkreisen nicht miteinander können (in der Regel sind der "westliche" und der "islamische" gemeint, womit schon vom Ansatz her zwei Dinge in einen Topf geworfen werden, die darin nichts zu suchen haben - eine geografische Verortung und eine religiöse).

Bevor man auf so einen Zug aufspringt, sollte man die Frage stellen, was eigentlich kulturelle Unterschiede ausmacht, und weshalb diese nicht genauso viel Gemeinsames wie Trennendes haben könnten. Man muss dafür nicht Philosophie und Kulturwissenschaft bemühen. Es genügt schon, den Blick auf den Alltag zu werfen.

Es gibt Erfahrungen, die wohl jeder kennt, der längere Zeit im Ausland gelebt hat. Mal fällt es schwer, sich einzuleben, mal kommt man sofort an und fühlt sich wohl. So ging es mir mit der Türkei. Istanbul wurde für mich rasch zu einer Stadt, in der ich mich ebensosehr heimisch fühlte wie in Köln.

Der Übergang war nahtlos, schon beim ersten Besuch vor vielen Jahren. Kulturelle Unterschiede, die Probleme bereitet hätten? Nicht vorhanden. Um Missverständnisse zu vermeiden: Ja, natürlich läuft das Leben in der Türkei anders als in Deutschland. Aber das bedeutet nicht, dass es (für mich) nennenswert schwieriger war, mich zurechtzufinden und gut zu leben. Das vermeintlich kulturell Trennende hat nie eine nennenswerte Rolle gespielt.

Wer nun einwendet, dass Istanbul nicht die Türkei ist und es beträchtliche Unterschiede zum anatolischen Kernland gibt, der hat durchaus Recht. Allerdings werden diese Unterschiede kleiner. Zwar gibt es in Istanbul die sehr offenen, multikulturell geprägten Stadtviertel, in denen sich vielfach auf den ersten Blick auch das findet, was vereinfachend als "westliche Einflüsse" gelabelt wird.

Es gibt aber neben Taksim, Cihangir oder Kadiköy auch noch Üsküdar oder Fatih oder Eyüp - die konservativen, islamisch und anatolisch geprägten Ecken, in denen Alltag und Atmosphäre anders sind. Und auch die Kommunikation. Ich habe Istanbuler aus den ersten Vierteln erlebt, die sich geweigert haben, in letztere einen Fuß zu setzen. Aufgrund vermeintlich kultureller Differenzen.

Bei genauerem Nachfragen waren es dann doch oft eher Wahlzettel-Differenzen, die sich inzwischen auch wieder nivellieren - so hat Üsküdar, das eigentlich traditionelles AKP-Gebiet ist, der AKP zuletzt im Wahllokal die Unterstützung versagt. Die Kulturbruchlinien existieren mehr in den Köpfen als in der Realität.

Mitunter erscheinen mir die kulturellen und Mentalitätsunterschiede zwischen innerdeutschen Städten und Bundesländern größer als zwischen Rhein und Goldenem Horn. Die Rheinländer ticken anders als die Hamburger, die Kölner anders als die Düsseldorfer, die Frankfurter anders als die Berliner. Wer aus Köln daran gewohnt ist, dass auch Fremde einen mitunter verkumpelten, direkt duzenden Umgang pflegen, wird in Hamburg erstmal vor eine Wand rennen.

Aber beide Mentalitäten haben ihren ganz eigenen Charme. Natürlich kann der auch mal zu viel werden. Der Kölner Karneval, dieses enthemmte Saufgelage der Biedermeier, gilt ja gemeinhin auch als Kultur. Trotzdem fühle ich mich darin fremder als in der anatolischsten Ecke Istanbuls - und flüchte daher jedes Jahr vor dem Frohsinn in den Norden und genieße dort die Zurückhaltung und höfliche Reserviertheit.

Am Ende scheint mir die Bruchlinie zwischen den sozialen- und Bildungsschichten deutlich größer und auch relevanter als die zwischen westlicher und östlicher, christlicher und islamischer Kultur. Der amerikanische Schriftsteller Dan Simmons sagte einmal: "Being a reader or non-reader, I've long thought, is a far greater (but less visible) divide than being black or white, Christian or atheist or Jewish, or man or woman."

Und ich glaube, er hat da nicht ganz Unrecht. Der kulturelle Unterschied zwischen jenen, die abends ein Buch lesen und jenen, die vor dem Fernseher sitzen, scheint mir mitunter um Längen größer als all die beschworenen Kulturkonflikte über Länder- und Kontinentalgrenzen.

Eine Art von sozialem Rassismus

Das zeigt sich auch an einem anderen Beispiel: Wohlhabenden Grünen-Wählern wird regelmäßig vorgeworfen, dass sie zwar für Zuwanderung und Aufnahme von Geflüchteten sind, zugleich aber Petitionen unterschreiben, wenn in dem Nobelviertel, in dem sie Wohnen, eine Flüchtlingsunterkunft gebaut werden soll.

Ähnliche Fälle gibt es bei Plänen für Sozialwohnungen. Und dabei sind das in der Regel Menschen, deren Communities interkulturell sind, deren Kollegen und Freunde aus unterschiedlichsten Ländern stammen. Was sich hier zeigt, ist eine Art von sozialem Rassismus. Es geht ihnen nicht um Herkunft, Hautfarbe oder Religion der potentiellen neuen Nachbarn. Sondern um die Unterschiede der sozialen Schicht.

In Deutschland scheint das Phänomen, dass soziale und Bildungsschichten unter sich bleiben und sich nach unten wie oben abgrenzen, stärker etabliert zu sein als in anderen Ländern. Es handelt sich dabei nicht zuletzt um eine Status-Selbstvergewisserung, die möglicherweise an die Angst vor sozialem Abstieg gekoppelt ist (was keineswegs verallgemeinernd sein soll - selbstredend gibt es auch innerhalb sozialer Gruppen Ausnahmen und Abweichungen, und Menschen, die versuchen, eben diese Fronten aufzubrechen).

Letztlich ist es eine nicht nur im Ausland, sondern im eigenen privaten Umfeld täglich zu erlebende Tatsache, dass Menschen mit den unterschiedlichsten kulturellen Hintergründen problemlos in der Lage sind, gut miteinander auszukommen und einander zu ergänzen, voneinander zu lernen, wenn sie nur dafür offen, wenn sie interessiert sind und ihre Grundhaltung ist, den Anderen zu akzeptieren wie er ist, anstatt ihn anhand willkürlicher Merkmale abzulehnen. Eine Erkenntnis, die so banal ist, dass man sich wundert, sie im Jahr 2019 überhaupt noch darlegen zu müssen.

Hinter den aus rechten bis rechtsradikalen Kreisen in die Mitte der Gesellschaft dringenden Kulturvorbehalten verbirgt sich in aller Regel nichts weiter als dumpfer Rassismus. Das zeigt sich wiederholt auch daran, dass die Ablehnung von Menschen aus anderen Kulturkreisen dort am höchsten ist, wo kaum Menschen mit ausländischen Wurzeln leben.

Die Ablehnung von anderen Lebensweisen

Die Rechten haben hierfür in den letzten Jahren eine neue Rechtfertigung gefunden: Man wolle ja eben verhindern, dass es in Deutsch-Hintertupfingen irgendwann so "schlimm" wird wie in Berlin, Köln oder Frankfurt. Ein "Argument", das allenfalls bei jenen verfängt, die noch nie in diesen Städten gelebt und erlebt haben, dass Diversität und Multikulturalität dort in der Regel weitgehend problemlos funktionieren.

Die ständige Forderung an Zuwanderer, sich zu "integrieren" ist vor diesem Hintergrund einigermaßen dreist - weil auch hier oft genug Rassismus mitschwingt: Eine Ablehnung von anderen Lebensweisen. Dabei gibt es in Deutschland nur eine einzige notwendige Integrationsgrundlage, und die ist das Grundgesetz.

Darüber hinaus kann und soll jeder so leben, wie er oder sie es möchte, solange die Freiheiten anderer nicht beeinträchtigt werden. Genau dieser Grundkonsens ist es, der dieses Land heute ausmacht. Und in diesem Aspekt sind es die rechtsradikalen fünfzehn Prozent, die am integrationsresistentesten sind und sich (man kann es nicht oft genug feststellen) mit der radikalislamistischen Minderheit die Pranke reichen dürfen.

Wenn aber die kulturellen Differenzen bloß ideologisch und vorgeschoben sind und die wesentlicheren Probleme in den Differenzen zwischen den sozialen Schichten liegen, offenbart sich das Problem, dass die eigentlichen Debatten sich viel stärker um die Verwerfungen drehen müssten, die Radikalkapitalismus und Neoliberalismus in der Welt anrichten.

Denn sie sind es, die zu den Verwerfungen und Spaltungen führen, die aufzulösen die vielleicht größte globale Aufgabe der kommenden Jahrzehnte ist. Neben dem Kampf gegen Klimawandel - der denselben Ursprung hat.

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