McLuhan, Magier des Medienzeitalters

Herbert Marshall McLuhan (21. Juli 1911 - 31. Dez. 1980) wäre heute 90 Jahre alt geworden. Was wurde aus seinen Slogans?

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Auch wer nichts von McLuhan weiß, hat seinen Spruch zumindest schon einmal gehört. Er markiert ein relatives Missverständnis, das nichtsdestoweniger erfolgreich war. Aber McLuhan war trotz aller Schmähung durch europäische Intellektuelle (H.M. Enzensberger nannte ihn einst den Überbringer einer "reaktionären Heilslehre") kein blinder Propagandist der neuen Medien, sondern ein penibler Erforscher des kulturellen Übergangs.

Zentral für McLuhan war die These, dass die Medienentwicklungen der westlichen Kultur nicht unbedingt einer Logik des Zerfalls folgen: der Niedergang der bislang gesellschaftsprägenden Buchkultur kann auch ein Aufgang neuer Sinnlichkeiten bedeuten, anstelle der Literalität zeichnet sich eine neue Oralität ab (Rockmusik etc). Die Schrift- und Druckkultur opferte ganzen Welten von Bedeutungs- und Wahrnehmungsinhalten, wie es einmal heißt, deren mögliche Rückeroberung durch die neuen Medien ansteht.

Kultur der Benutzeroberflächen

"I am determined to understand what's happening" McLuhan 1967

Der bekennende Katholik und Anglistik-Professor war genaugenommen eher eine Kassandra des neuen Medienzeitalters und der Hype um ihn ein direkter Effekt der überdrehten 60er Jahre. Das Ende der Gutenberg-Galaxis war ihm nicht nur technisches Mediengeschehen, sondern ebenso willkommene Gegenreformation und Eintritt in die neue Ökumene des Fernsehzeitalters, da "die gesamte menschliche Familie zu einem einzigen globalen Stamm verschmolzen wird". An den Medien wird der Inhalt selbstverständlich nicht geleugnet, aber dem Theoretiker geht es vielmehr um deren Organisationsprinzip: die Form dominiert alle Inhalte, es herrscht die Regel des berüchtigten Sendeformats. Die zentrale Hoffnung McLuhans ist mit einer anderen Formel besser auf den Punkt gebracht: "We return to the inclusive form of the icon". Eine Kultur der Benutzeroberflächen, so die Hoffnung, wird weniger elitär sein als die Kultur der Schriftgelehrten.

Die kognitive Auswirkung des Alphabets, der Schrift- und Druckkultur des Abendlandes wird durch Radio und Fernsehen, also durch audiovisuelle Medientechnologien, die eine neue Realitätsmodulierung erlauben, relativiert. Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts war diese Einsicht in den Zusammenhang von medialer Technik und Wahrnehmung noch keineswegs selbstverständlich. McLuhan, dessen Theorie der akademischen Literaturwissenschaft des britischen New Criticism der 30er-Jahre ebensoviel verdankt wie der ästhetischen Innovation von Literaten wie E.A. Poe, James Joyce, oder Ezra Pound, aber auch den detaillierten Analysen des kanadischen Wirtschaftshistorikers Harold A. Innis, hatte wie kein anderer die Stimmung seiner Zeit auf den Punkt gebracht.

Medien als Forschungsgegenstand, die formbildende Kraft der Materialitäten von Kommunikation, die psychischen Effekte des technologischen Wandels, die soziale Prägung durch Kommunikationsmittel - das waren die neuen Themen der kanadischen Schule. Als Harold Innis im behäbigen Gelehrtenton Ende der 40er Jahre verkündete, "dass der Gebrauch eines bestimmten Kommunikationsmediums über einen langen Zeitraum hinweg in gewisser Weise die Gestalt des zu übermittelnden Wissens prägt", hörte niemand hin. Als Anfang der 60er Jahre McLuhan mit "The medium is the message" aus allen Kanälen dröhnte, war er nicht mehr zu überhören. Entscheidend ist aber, dass dazwischen ein wichtiger Schritt von der Kulturkritik hin zur Medientheorie gemacht wurde.

In seiner Erstveröffentlichung The Mechanical Bride (1951) versucht McLuhan sich noch in einer Kritik der technischen Rationalisierung: Volkskultur des industriellen Menschen, so lautet der Untertitel dieser Ikonografie der amerikanischen Alltagskultur. Seit er von seinem Studienaufenthalt im britischen Cambridge zurückgekehrt war, sammelte McLuhan in einer Schachtel Werbeanzeigen, die er mit Kommentaren versah. Irgendwann trat der unwahrscheinliche Fall ein, dass daraus doch ein Buch wurde - aber was für eines: die Texte kommentieren ein Filmplakat mit Humphrey Bogart, eine Werbeanzeige für Nylonstrümpfe, Comics, oder die Titelseite der New York Times, die wahlweise als symbolistische Landschaft oder als Jazzpartitur vorgeführt wird. Der Anspruch dieser Traumanalyse des kollektiven Bewusstseins ist kulturkritisch aufklärend:

Wir leben in einem Zeitalter, in dem zum ersten Mal Tausende höchst qualifizierter Individuen einen Beruf daraus gemacht haben, sich in das kollektive öffentliche Denken einzuschalten, um es zu manipulieren, auszubeuten und zu kontrollieren.

McLuhan 1951

Aber die Methode irritiert, denn McLuhan nimmt einen "kreisenden Blickpunkt" in Anspruch, der es erlaube, das Buch in einer beliebigen Reihenfolge zu lesen. "Sie hassen dieses Buch", sinnierte McLuhan über den Misserfolg seines Erstlings. "Sie sind besessen von den alten eindimensionalen, monolinearen Geschichten und Ausführungen..." Die erste deutsche Ausgabe erschien übrigens erst 1996 .

Die Erfindung des McLuhanismus

Vorerst blieb es eher still um den Gelehrten, der akademisch Fuß zu fassen suchte. 1953 gründet er gemeinsam mit Edmund Carpenter die Zeitschrift Explorations, die er mit dem bemerkenswerten Essay "Kultur ohne Schrift" eröffnet. Sie wurde aus Mitteln der Ford-Foundation finanziert, und widmete sich mit einer Reihe von namhaften Autoren der interdisziplinären Untersuchung von Sprache, kulturellen Verhaltensmustern und Medien - und das zu einer Zeit, die Kommunikation als wesentlich nachrichtentechnisches Problem betrachtete.

In der Folge erwies sich McLuhan als ein begnadeter Selbstvermarkter. In seiner Rede auf der Jahresversammlung der National Association of Educational Broadcasters (NAEB) in Nebraska 1958 wies er darauf hin, dass man die Natur der neuen elektronischen Medien dringend erforschen müsse, um die traditionellen Werte der Schriftkultur nicht zu verlieren. Beeindruckt von diesem Konzept, wurde McLuhan vom Forschungsausschuss der NAEB mit einem Report in understanding new media beauftragt; dieser großzügig finanzierte Report sollte die Grundlage für ein medienpädagogisches Kompendium sein, um den Unterricht der oberen Schulstufe den neuen Medienverhältnissen anzupassen.

Unsere erweiterten Sinne, Werkzeuge, Techniken, bildeten durch Jahrhunderte hindurch geschlossene Systeme, die zu einem Wechselspiel nicht fähig und kollektiv nicht bewusst gewesen sind. Im heutigen elektrischen Zeitalter nun hat gerade der instantane Charakter der Koexistenz unserer technischen Instrumente eine in der Menschheitsgeschichte völlig neue Krise hervorgerufen.

McLuhan 1962

Obwohl der Report in seiner Mischung aus wissenschaftlichem Anspruch und einem teils abstrusen Ideenfeuerwerk bei den Auftraggebern überhaupt nicht gut ankam, entstand daraus eins seiner erfolgreichsten Bücher: Understanding Media: The Extensions of Man (1964), angelegt als der zweite Teil seiner 1962 erschienenen Untersuchung zur Schriftkultur mit dem nicht weniger berühmten Titel The Gutenberg Galaxy. The Making of Typographic Man. Nicht nur, dass Medien hier in einem umfassenden Sinn zur Sprache kommen, zeichnet diese Klassiker aus, sondern auch, wie das geschieht: von einer Kritik der Alltagskultur bewegte sich McLuhan zu einer Kritik der Buchkultur als kulturell prägender Form - eine Kritik, die sich der neuen Wahrnehmungsästhetik anpasst und die kritische Haltung des distanzierten Beobachters aufgibt.

Die Erforschung der elektronischen Umwelt praktiziert eine immersive Haltung und überrascht nun mit der Aussicht auf ein "Erwachen aus dem historisch konditionierten Alptraum der Vergangenheit" mittels neuer Technologien. Wahrnehmen und Urteilen, so McLuhan, müssten neue Formen entwickeln, um neue Lesbarkeiten der Kulturen zu erlauben. Die Überwindung des "typographical cultural bias" ortete er in der künstlerischen Avantgarde des 20. Jahrhunderts, die ihre eigenen Konstruktionsmomente sichtbar macht, und er sprach selbst der poetischen Verdichtung und Auflösung der Ausdrucksform zu: McLuhan nannte seine eigene Methode "perceptual, not conceptual" (wahrnehmend, nicht begrifflich).

Als hochbezahlter Berater für Unternehmenskommunikation bei General Electric, von Werbe-Guru Howard Gossage unter die Fittiche genommen, als weltweit meistdiskutierter Intellektueller 1967 auf der Titelseite von Newsweek, von Tom Wolfe im New York Herald Tribune portraitiert, als Interviewpartner des Playboy, avancierte der privat eher spröde kanadische College-Professor zur allseits bekannten Medienfigur. Als seine Thesen in dem von Jerome Agel gemachten und von Quentin Fiore "anti-typographisch" gestalteten Buch The Medium is the Massage: An Inventory of Effects (1967) noch einmal verdichtet wurden, verkaufte sich dieser Remix des McLuhanismus in über einer Million Exemplare.

Die Vergangenheit liegt dort hinten. Stehen wir einer uns völlig neuen Situation gegenüber, dann neigen wir dazu, uns an die Gegenstände, die Atmosphäre der jüngsten Vergangenheit zu klammern. Wir betrachten die Gegenwart im Rückspiegel. Wir schreiten rückwärts in die Zukunft. Der amerikanische Vorstädter lebt in seiner Phantasie noch im Wilden Westen.

McLuhan 1967

"Glauben Sie immer noch, dass das Medium die Botschaft ist?" Mit dieser Frage eröffnete Gary Wolf ein fiktives Interview mit McLuhan im Zeitalter der digitalen Medien (Wired, Jan.1996). Mit der Einschränkung, dass es weniger um ein reflexives Verhältnis zum Medieninhalt geht, sondern darum, dass Medien eigene Umwelten schaffen und den Benutzern ihre eigenen Voraussetzungen aufzwingen, fällt die Antwort positiv aus. Medien sind allgegenwärtig und definieren Wirklichkeit, und diese Medienwirklichkeit ist nicht etwas, aus dem wir einfach aussteigen können.

Wie beeindruckend weitsichtig McLuhans Analyse der Medienzivilisation war, zeigt das Schlusskapitel von Understanding Media (deutsch: Die magischen Kanäle). Hier geht es um das Ende der Linearität durch die Rückkopplungen der "elektrischen Informationsbewegung": Automation und Kybernation. Lange vor dem Diskurs der Postmoderne machte McLuhan seinen Lesern bewusst, welche Rolle Information, Kommunikation und Wissen für die Reproduktion der Gesellschaft spielen und wie Kultur und Technologie verschmelzen. Es entsteht eine Kultur der Information, die Produktivkraft der neuen Medientechnik erzeugt nach der Explosion als Grundmotiv einer energetischen Technik der Industriegesellschaft eine implosive Grundhaltung, nach der die Muster des Fortschritts neu zu denken sind.

Information aber definiert Unterschiede, sie hat keine Substanz sondern bestimmt Relationen. Nicht Konsens ist das Ziel von Kommunikation, sondern Kollektivierung, nicht Verständigung, sondern Wahrnehmungsverschiebung und Übersetzung (Medien sind nach McLuhan Metaphern "to translate experience into new form""). In diesem Weltbild eines implosiven Mosaiks verschaltet das Basis-Medium Elektrizität die Welt zu einem einzigen Bewusstsein. Die Moderne implodiert zum Global Village - ein eher klaustrophobisches Bild und keineswegs die Idealvorstellung einer postindustriellen Gesellschaft, wie sie McLuhan manchmal untergeschoben wird.

Medien als die neue Natur

Eine damit in Aussicht gestellte neue Organizität bedeutet für McLuhan die Rückkehr zu einer vorindustriellen Logik, und damit die Wiederaufnahme von Momenten der Vergesellschaftung, wie sie in oralen Kulturen bestanden haben. Die neuen Medien der Informationsverarbeitung dekonstruieren die Literalität, die auf Voraussetzungen des phonetischen Alphabets und des Drucks gebaute Form der Zivilisation. Die "Electric simulation" der Medienwirklichkeit ist ein Bewusstseinsvorgang, oder besser die Ausweitung des Bewusstseins über die Dimensionen des Sprachlichen hinaus in eine Kultur der Oberflächen.

Dies weist in Richtung einer umfassenden Sinnlichkeit innerhalb der neuen elektronischen Umwelten, die McLuhan neue Taktilität und später auch Acoustic Space genannt hat. Das Grundmuster des Instantanen oder der Simultaneität bricht mit der Logik von Kausalität zugunsten von medialen Effekten, den Resonanzen. In Resonanzverhältnissen korrespondieren verschiedenste Pole auf verschiedenste Art und Weise miteinander, mit nicht immer vorhersehbaren Ergebnis. Vibrationen des Atmosphärischen, ein Übergang von den logisch-rationalen zu den sinnlich-affektiven Motiven, das bedeutet in etwa diese "Instant Awareness" taktiler Kopplungen, die in der Subjektkonstitution eine ursprünglichere Rolle spielen als die Linearitäten und Kausalitäten der Schriftkultur. Ob das nun gut oder schlecht ist, bleibt weithin offen - obwohl McLuhan zuletzt eher den Identitätsverlust und die repressiven Aspekte des Mediengebrauchs betont hat.

Der akustische Raum ist ursprünglich der des oralen Menschen vor der Erfindung der Schrift, es ist ein Raum ohne feste Orientierungspunkte. Erst die Visualisierung des Raums, die Ordnungsprinzipien der alphanumerischen Codierung hat "an eye for an ear" gesetzt und durch die zunehmende Abstraktionsleistung den Abstand zwischen Mensch und Welt vergrößert. Mediale Körperprothesen wurden angelegt, um den menschlichen Aktionsradius zu erweitern; doch die Körperfunktionen verselbständigen sich in den medialen Apparaten. Eine Zeitlang herrscht die Angst vor, diese Apparate würden dem Menschen die Welt vollends verstellen.

Doch dann wird klar: Medien schaffen neue symbolische Ebenen, und generieren völlig neue Umwelten - "The new media are not bridges between man and nature, they are nature". Dass Medien die Wirklichkeit nicht wiedergeben oder vermitteln, sondern diese erst definieren, das hat McLuhan in aller Radikalität vorgeführt.