Minuten, die ein Land veränderten

Vor zehn Jahren wurde nach einer Friedenskundgebung der israelische Premierminister Jitzhak Rabin ermordet

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Der Regierungschef war auf dem Weg von der Bühne auf dem Rathausplatz in Tel Aviv zu seinem Wagen, als der Student Jigal Amir zwischen die Sicherheitsbeamten trat und aus einer Beretta Neun-Millimeter-Handfeuerwaffe sechs Schüsse auf Jitzhak Rabin abfeuerte. Der Premierminister starb kurz darauf in einem Krankenhaus. Sein gewaltsamer Tod machte aus einem Ex-General, der dem Friedensprozess lange Zeit eher skeptisch gegenüber stand, einen Helden, der in Israel bis heute meist verehrt und manchmal abgrundtief gehasst wird. Seine Ermordung gibt aber auch bis heute Anlass zu Verschwörungstheorien.

Beerdigung von Jitzak Rabin. Bild: O. Eberhardt

Im nachhinein scheint es, als habe er geahnt, was passieren würde: Als Premierminister Jitzhak Rabin am Ende einer Friedenskundgebung in Tel Aviv gemeinsam mit Hunderttausenden das Lied „Schir LeSchalom“ (Lied für den Frieden sang, sah er müde, besorgt aus. Wenige Minuten später verbreitete es sich wie ein Lauffeuer in der Menge: Auf den Regierungschef sei geschossen worden, erzählten sich die Kundgebungsteilnehmer. Wie Stunden wirkende Minuten bangen Wartens folgten, die Köpfe über Transistorradios zusammen gesteckt, bis ein Sprecher mit geknickter Stimme bekannt gab: „Der Regierungschef des Staates Israel ist soeben an seinen Verletzungen gestorben. Der Attentäter ist Jude.“

Es waren Worte, die das Land für immer veränderten: Es war nicht das erste Mal, dass ein Politiker in Israel einem Gewaltakt zum Opfer fiel, und es sollte nicht das einzige Mal bleiben. 1972 töteten japanische Terroristen bei einem Angriff auf den Tel Aviver Flughafen den Chemiker Aharon Katzir, der wenige Tage später zum Präsidenten gewählt werden sollte. 2001 erschoss ein palästinensischer Extremist in einem Jerusalemer Hotel den Tourismusminister Rechawam Se'ewi. Doch Rabin war nicht nur das höchstrangige Opfer, sondern auch der einzige Politiker, der von einem jüdischen Israeli ermordet wurde. Sein Tod ist ein nationales Trauma, eine unterschwellige Warnung.

In den Monaten vor dem 4. November hatte Israel Kopf gestanden: Im September 1993 hatten Rabin und der Vorsitzende der palästinensischen Befreiungsorganisation, Jassir Arafat, in Washington die Osloer Übereinkünfte unterschrieben. Israels Rechte, die die palästinensischen Gebiete als untrennbaren Teil Israels sieht, war wütend und protestierte auf Straßen und Plätzen, so oft sie konnte. Mit Hitler und Goebbels wurden Rabin und sein Außenminister Schimon Peres verglichen. Schnell trafen im Büro des Premierministers die ersten Morddrohungen ein.

Doch Rabin sah nur die Massen bei den Friedenskundgebungen, und übersah dabei, dass, obwohl er 1992 dem rechtskonservativen Jitzhak Schamir die Macht abgenommen hatte, das politische Kräfteverhältnis zwischen Rechts und Links gleich geblieben war: Die Arbeiterpartei war zur stärksten Fraktion geworden, weil der Likud Stimmen an die ultranationalistischen Parteien am rechten Rand verloren hatte. Rabins Friedensprozess hatte in der Öffentlichkeit keine Mehrheit – ganz im Gegenteil: Der rechte Rand war im Laufe der ersten Intifada noch rechter geworden.

Nachstellung des Attentats. Bild: O. Eberhardt

Als Rabin und Peres ihre Osloer Übereinkünfte vorlegten, war dies, bei aller echten Entrüstung, für die Politiker des angeschlagenen Likud auch ein Anlass, die zur ultra-nationalistischen Rechten abgewanderten Wähler zurück zu gewinnen: Vor allem der rechts-konservative Falke Benjamin Netanjahu nutzte die Gunst der Stunde, bei jeder Gelegenheit gegen die Rabin-Regierung zu wettern, und sich dabei auch mal im Ton zu vergreifen. Er war nicht der Einzige, der Rabin als „Verräter“ beschimpfte, und von einer „verbrecherischen Regierung“ sprach. Viele taten dies, und gaben damit jungen Rechten die Grundlage dafür, die in den meisten Fällen rhetorisch gemeinten Urteile ihrer Rabbiner falsch zu interpretieren.

„Es fehlt der religiösen Jugend an Anleitung, an Diskurs“, sagt Generalstaatsanwalt Menachem Masus: „Sie wird indoktriniert statt ausgebildet, mit dem Ergebnis, dass sie nicht mehr zwischen richtig und falsch unterscheiden kann.“ Neun Jahre nach der Tat hat er 2004 untersucht, ob Amir damals von Politikern und Rabbinern aufgehetzt worden ist. Sein Ergebnis stieß in Israel auf massive Kritik: Es habe keine Anstachelung zum Mord gegeben; Amir sei für seine Tat einzig und allein selbst verantwortlich:

Man kann nicht von der Hand weisen, dass sich der Täter durch die Vielzahl von feindseligen Äußerungen im rechten Spektrum im Recht gesehen hat. Doch damit konnten diejenigen, die diese geschmacklosen Äußerungen von sich gegeben haben, nicht rechnen. Niemand, kein Rabbiner und kein Politiker, hat offen gesagt: ,Rabin muss sterben“.

Doch bei einer ganzen Reihe von Israelis ist es so angekommen – das weist auch Masus nicht von der Hand.

Schon Monate vor dem Attentat hatte der Inlandsgeheimdienst Schin Beth einen verdeckten Mitarbeiter in eine Gruppe ultra-nationalistischer Israelis eingeschleust, der auch Jigal Amir angehörte. Viele Fragen ranken sich bis heute um die Tätigkeit dieses V-Mannes: Offen ist beispielsweise, ob er seine Ergebnisse regelmäßig an seinen Arbeitgeber weitergegeben hat, und, wenn ja, warum diese nicht bei der für den Schutz Rabins zuständiger Einheit angekommen ist. Offen ist aber auch, warum der Regierungschef nicht auf direktem Weg ins Krankenhaus gebracht wurde. Verschwörungstheoretiker behaupten, der Schin Beth habe den Premier tot sehen wollen, weil die Organisation der Ansicht war, seine Politik sei schlecht für Israels Sicherheit. Sie sehen sich bestätigt von einem Amateurvideo, auf dem zu sehen ist, wie Amir durch den äußeren Ring von Sicherheitsbeamten tritt, seine Waffe hebt und feuert. Doch ein Beweis ist das nicht:

Nicht nur Rabin, sondern auch der Sicherheitsapparat hat die Lage nicht ernst genommen. Der junge Mann mit einer Kippa auf dem Kopf hat kein Misstrauen erregt. Jeder hat ja ein Attentat von palästinensischer Seite erwartet.

Tom Segev
Jitzhak Rabin, US-Präsident Clinton und Jassir Arafat am 13. 9. 1993 nach der Unterzeichnung des Oslo-Abkommens. Bild: Clinton Presidential Materials Project

Das Ende des Friedensprozesses

Die Schüsse haben Rabin getötet. Aber sie haben den Friedensprozess nicht zum Halten gebracht. Dafür waren andere Faktoren verantwortlich. Am Tag nach dem Attentat wurde der erst am Tag zuvor zum Verteidigungsminister ernannte Schimon Peres vorläufiger Premierminister. Die unter schwerem Stock stehende israelische Öffentlichkeit stand in jenen Tagen mit überwältigender Mehrheit hinter ihm. „Hätte sich Peres zu sofortigen Neuwahlen entschlossen, hätte er mit großer Mehrheit gewonnen, weil das traumatische Ereignis die Tagespolitik überlagerte“, sagt der Demoskop Professor Ascher Arian von der Universität Haifa. Doch Peres wartete ab, sechs Monate lang, bis sich die öffentliche Meinung beruhigt hatte. Und verlor gegen den rechtskonservativen Benjamin Netanjahu, der die Osloer Vereinbarungen nur zögerlich und mit großer Verspätung umsetzte. Auf der palästinensischen Seite verbreitete sich die Ansicht, Israel habe es nicht ernst gemeint.

Die Osloer Übereinkünfte waren kein Fehler. Es war ein Fehler, sie nicht umzusetzen. Hätte sich jede Regierung nach uns daran gehalten, hätte es keine zweite Intifada gegeben. Tausende könnten noch am Leben sein.

Schimon Peres heute

Doch Oslo steht in Israel heute weniger im Kurs als je zuvor. Wenn sich in diesen Tagen Politiker fast aller Couleur zu einer Vielzahl von Gedenkveranstaltungen treffen, erinnern sie sich und die Gesellschaft vor allem an ein dramatisches, für viele zutiefst schockierendes Ereignis. Die Linke gedenkt zudem eines Mythos’ vom General, der zum Friedensbewegten wurde, vom Premierminister, der für seine Überzeugung gestorben ist. Gerne wird dabei übersehen, dass Rabin an den Osloer Übereinkünften, die in den vergangenen zehn Jahren zu seinem Lebenswerk stilisiert wurden, kaum einen Anteil hatte.

Peres, der zur Zeit der Verhandlungen noch Außenminister war, und sein Generaldirektor, der heutige Parlamentsabgeordnete Jossi Beilin, hatten Rabin erst mit den Ergebnissen konfrontiert, als diese so gut wie in trockenen Tüchern waren. Der Regierungschef reagierte skeptisch und begeisterte sich erst für die Übereinkünfte, als ihm überall in der Welt eine Welle der Begeisterung entgegen schlug. Und trotzdem: Darüber hinaus war die Zeit seiner Regierung von Entscheidungsschwäche geprägt. Nachdem 1994 der Siedler Baruch Goldstein im Grab der Patriarchen in Hebron, einem von Muslimen und Juden gleichermaßen verehrten Heiligtum, 29 Palästinenser erschoss, hätte er die Unterstützung für eine Räumung der von fanatischen Juden bewohnten Siedlung in der Hebroner Altstadt gehabt. Doch Rabin wies das Drängen seiner Berater zurück – mit dem Ergebnis, dass diese Siedler bis heute der zu ihrem Schutz abgestellten Armee und der palästinensischen Bevölkerung auf der Nase herum tanzen.

In Israel wie auch in den palästinensischen Gebieten findet heute die Ansicht immer weitere Verbreitung, dass Oslo ein Fehler war: In Israel, weil die palästinensische Autonomiebehörde dadurch Waffen erhalten hat, die allerdings selten für Anschläge benutzt werden, in den palästinensischen Gebieten, weil sich über Jahre einfach nichts bewegte.

Rabin hatte 1993 in Washington etwas unterschrieben, was für viele Israelis seit 1967 undenkbar gewesen war: Teile der besetzten Gebiete aufzugeben. Der Likud, der erst 1974 aus einer Zahl von kleineren Parteien gegründet worden war, wurde stark, weil er plötzlich zum Hüter des Status Quo, also eines Israel plus der besetzten Gebiete, geworden war: Er konnte damit die Nationalreligiösen genauso hinter sich bringen, wie die Strategen, Politiker wie Ariel Scharon, die die palästinensischen Gebiete als integral für die Sicherheit des Kernlandes betrachteten. Rabin hatte auch damals seinen Teil dazu getan: In einem ersten Versuch als Regierungschef von 1974 an sammelte er Skandale en masse und verlor 1977 die Macht an den Likud-Politiker Menachem Begin. Es war das erste Mal, dass die Arbeiterpartei in der Geschichte des Staates nicht den Regierungschef stellte; die Sozialdemokraten erholten sich erst 1992 mit Rabins erneutem Wahlsieg von dieser Niederlage – doch wirklich geändert hatte sich, wie gesagt nichts: Die Rechte hatte in der Wählerschaft die Mehrheit behalten.

Rabin, Peres und Beilin hatten mit Oslo eine Tür geöffnet, die auch Jigal Amir nicht mit Gewalt zuschlagen konnte: Die Gesellschaft gewöhnte sich im Laufe des vergangenen Jahrzehnts daran, dass die Siedlungen Fremdkörper, ein teurer Luxus, sind und dass es im Herzen gar nicht so weh tut, besetztes Land aufzugeben.

Der Tod Rabins hat einen Mythos geschaffen. Und einen anderen beseitigt – den eines geeinten Landes, in dem alle am gleichen Strang ziehen. Die Tat ließ Spaltungen offensichtlich werden, die seit vielen Jahren im Verborgenen lagen.

Sie sind immer noch da. Aber vieles hat sich geändert. Als Regierungschef Ariel Scharon im Sommer alle 21 Siedlungen im Gazastreifen und vier Ortschaften im nördlichen Westjordanland räumen ließ, waren die Proteste groß. Zornige Jugendliche kündigten der Regierung den Krieg an. Und im Büro des Premierministers trafen Dutzende Morddrohungen ein. Es waren diesmal die Rabbiner, die versuchten, mäßigend auf die Gegner der Räumung einzuwirken: „Ich möchte nicht noch einmal missverstanden werden“, sagt Rabbi Jisrael Rosen vom Zomet-Institut in der Siedlung Gusch Etzion: „Wenn ich um meine Meinung gebeten werde, dann sage ich sie. Aber ich mache auch klar, dass Mord Mord bleibt, aus welchem Grund auch immer er begangen wird.“

Doch diese Haltung wird nicht von jedem geteilt: Rechtzeitig zum zehnten Jahrestag des Rabin-Attentats startete die Familie Jigal Amirs ein Kampagne zur Freilassung des Mörders: Im Internet sammelt sie Unterschriften; in einem Fernsehinterview behauptete Amirs Mutter: „Zehn Jahre Gefängnis sind genug, mehr als genug, für jemanden, der einen Verbrecher getötet hat.“ Mit dieser Haltung steht sie nicht ganz alleine da: In einer Umfrage des Gallup-Instituts sprachen sich immerhin 21 Prozent der Befragten für eine Freilassung des zu lebenslanger Haft ohne Aussicht auf Begnadigung Verurteilten aus.