"Morgen wirst du eine Frau sein, mein Sohn"

In Frankreich mobilisiert die Rechte für einen Schulboykott, weil angeblich die "Gender-Theorie" zum neuen Erziehungsparadigma an den staatlichen Schulen geworden ist

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In Frankreich macht derzeit eine Kampagne von sich reden, die in ihrer Stoßrichtung der Gegnerschaft zum baden-württembergischen Bildungsplan 2015 ähnelt (vgl. Link auf http://www.heise.de/tp/blogs/8/155660). Mit Telephonanrufen, SMSen und über Twitter werden Eltern dazu aufgerufen, ihre Kinder an ausgewählten Tagen, einmal im Monat, nicht zur Schule zu schicken, aus Protest gegen ein Lehrprogramm, das unter dem Namen "ABCD der Gleichheit" firmiert und die Gleichheit zwischen Jungen und Mädchen zum pädagogischen Programm hat.

In den Aufrufen an die Eltern wird das Programm auf einen simplen, beunruhigenden Inhalt reduziert, wie das Zitat aus einer Twitter-Nachricht an Eltern von Schulkindern vorführt:

An alle die, die Schulkinder haben. Achtung: Am 27.Januar ist der Tag, an dem unsere Kinder nicht zur Schule gehen sollen. Die Wahl ist einfach: Entweder man akzeptiert die "Gender-Theorie" (Sie werden unseren Kinder beibringen, dass sie nicht als Junge oder Mädchen geboren werden, sondern dass sie wählen, es zu werden!! Ohne nun auf Pläne für den Sexualkundeunterricht an den Grundschulen einzugehen...), oder man verteidigt die Zukunft unserer Kinder. Unsere Kinder gehen am Montag nicht zur Schule. Schreiben Sie in das Klassenheft: "Meine Tochter, mein Sohn kommt heute nicht zur Schule, weil er an der Kampagne zum Verbot der Gendertheorie an den Lehranstalten teilnimmt. (…) Verbreiten Sie die Informationen und denken Sie an die Aussage der Senatorin des Parti Socialiste L. Rossignol: "Die Kinder gehören nicht den Eltern, sondern dem Staat". (...)

Wie viele Eltern genau sich dem Aufruf angeschlossen haben, ist derzeit noch nicht bekannt. Medienberichte aus dem Westen des Landes und aus der Region Region Île-de-France deuten daraufhin, dass die Kampagne auf einige Zustimmung trifft.

Der genaue Überblick ist auch schwierig, weil es bislang in Regionen zu unterschiedliche Boykotttagen ( i.O. "Journées de retrait de l’école", im Kürzel JRE) aufgerufen wurde. Laut Humanité blieben vergangene Woche, am 24. Januar, an Schulen in Mülhausen und Straßburg "bis zu einem Drittel der Schüler" dem Unterricht fern.

Etwa 20 Prozent der Schüler in einer Problemzone bei Meaux sollen dem Unterricht am vergangenen Montag, dem 27. Januar, ferngeblieben sein, meldet Le Parisien und gibt zwei Beispiele, wie die Kampagne ankommt und welche Schalthebel sie bedient. So wird der Bürgermeister vom Meaux als solidarisch mit der Kampagne zitiert: Er sei schockiert über die Gender-Theorie und verstehe die Beunruhigung der Eltern. Dazu wird der Aufruf für den nächste Schul-Boykott-Tag wiedergegeben:

Morgen wirst du eine Frau sein, mein Sohn.

An etwa hundert Schulen - von insgesamt 48.000 französischen Schulen - war der Betrieb gestört, fasst Le Monde heute die Wirkung der beiden bisherigen Boykott-Tage zusammen.

Nervosität bei der Regierung

Von der Regierung wird die Kampagne ernst genommen, was wahrscheinlich damit zu tun hat, dass man dort ziemlich schockiert war über den massiven Widerstand gegen das große Projekt im Namen der Gleichheit, die Ehereform zugunsten der gleichgeschlechtlichen Partnerschaften. Bildungsminister Vincent Peillon erklärte gestern vor dem Parlament:

Unsere Schulerziehung lehnt die Gender-Theorie vollkommen ab. Und sie lehnt die Instrumentalisierung derjenigen ab, die von denen kommen, die aus der negationistischen extremen Rechten kommen und eine Idee verbreiten, die den Eltern Ängste einjagt und die Pädagogen verletzt (..). Ich appelliere hiermit ausdrücklich an die Eltern in Frankreich, seien Sie versichert. Hören Sie nicht auf jene, die Zwietracht und Haß an den Schulen säen wollen. Das, was wir machen, ist nicht die Gender-Theorie, ich lehne sie ab, sondern wir wollen die grundlegenden Werte der Republik und die Gleichheit zwischen Männern und Frauen fördern.

Die Nervosität ist unverkennbar. Heute ließ Peillon wissen, dass die Schulleitungen Eltern in die Sprechstunde bitten sollten, die sich dem JRE-Aufruf angeschlossen haben. Die Schulen sollte ihnen die Realität gegenüber den Gerüchten und Lügen erklären.

Auch in den Medien bemühte man sich um rasche Aufklärung. In fünf Punkten zerpflückte Le Monde den Vorwurf, dass das franzöische Erziehungssystem nun die "Gender-Theorie" den Schülern als neues Paradigma auferlege und der Unterricht in Gender-Theorie nun verpflichtend werde. Wobei die Journalsietn sich bemühten, auch noch auf den anderen kolportierten Vorwurf widersprache, wonach in Grundschüler künftig im Sexualkundeunterricht zum "Masturbieren" ermutigt würden.

Ähnlich der Nouvel Observateur, auch dort markiert man fünf Punkte, die der rechten Propaganda über die Schulerziehung der sozialdemokratischen Regierung widersprechen. Angesprochen wird ein weiterer Vorwurf gegen die Erziehung zur Gleichheit: Dass sie ein Plädoyer für die Pädophilie sei.

Die neue Kulturkampfrechte

Die Attacke, die am meisten ernst genommen wird, weil sie Eltern besonders verängstigen soll, und die auch Bildungsminister Peillon konkret ansprach ("ein vollkommen verlogenes Gerücht"), lautet, dass Jungs von nun an darin unterrichtet würden, dass sie zu kleinen Mädchen werden. In den offiziellen Untersichtsmaterialien und Texte läßt sich kein Beweis dafür finden, dass der französische Staat Transsexualität fördere, schreibt der Nouvel Observateur, die sei eine bloße Erfindung der bekanntesten Protagonistin der JRE-Boykottbewegung, Farida Belghoul.

An dieser Schlüsselfigur zeigt sich erneut, wie unterschiedlich sich die Rechte zusammensetzt, die sich anhand des Themas Gleichheit der Geschlechter konstituiert, in der "Gender-Theorie" ein leicht zu verwurstendes Feindbild gefunden hat, und mit Tagen des Zorns mobilisiert. Farida Belghoul ist in Frankreich eine bekannte Persönlichkeit, weil sie sich in den frühen 1980er Jahren mit deutlichen, einprägsamen Reden und Schriften für die Intergration algerischer Einwanderer der zweiten Generation eingesetzt hat - wenn man so will eine Streiterin für Multikulturalismus. Ihr bekanntester Slogan war "Frankreich ist wie ein Mofa, um weiterzukommen, braucht man ein Gemisch als Treibstoff".

Nun macht sie gemeinsame Sache mit Alain Soral (siehe Wegen "antisemitischer Ausfälle": Auftrittsverbote für den Komiker Dieudonné), der gegenüber Einwanderen aus Nordafrika nicht gerade eine Willkommenskultur pflegt (Modernisierung des rechten Spektrums) und zur wichtigen Hintergrundfigur einer extremen Rechten geworden ist, die den Antisemitismus zum gemeinsamen Nenner hat.