Stadt als (vergessenes) Sinnversprechen

Dresdener Neumarktviertel mit Frauenkirche. Bild: Ronny Kreutel

Immer noch gilt: Das Urbane braucht auch Gestaltung

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Der Kunstphilosoph Boris Groys befand einmal, dass "unser historisches Verhältnis zur Stadt vom utopischen Traum nach vollständiger Vernünftigkeit, Übersichtlichkeit und Kontrollierbarkeit der eigenen Umwelt geprägt" sei. Damit scheint es nicht mehr weit her zu sein: Denn das Gesamtbild, mit dem Städte heute zumeist aufwarten, entspricht augenscheinlich nicht dem Identifikationsbedürfnis seiner Bewohner und Besucher. So nimmt es nicht Wunder, wenn Geschichte als Kategorie des Städtischen eine Renaissance erlebt. Und mittelbar wird damit auch das Verständnis für einen gestaltenden Städtebau neu geweckt.

Im landläufigen Sinne geht es dabei um die Sicherung historischer Kontinuität - in der Substanz und im sichtbaren Bild. Dass der Traditionalismus eine neue Dynamik und Größenordnung erreicht - man braucht ja nur kurz auf den Frankurter Fachwerkstreit, auf die vermeintlichen Identitätsversprechen der Leipziger Paulinerkirche und des Berliner Stadtschlosses, die Debatten um die Altstadtentwicklung in Potsdam und Nürnberg oder den Wiederaufbau des Neumarktviertels in Dresden zu schauen - , erscheint deshalb wenig überraschend. Stadtgestaltung mag anknüpfen an einzelne, besonders bedeutende Bauwerke von historischer Aussagekraft, an das bauliche Gesamtgefüge im Sinne des Ensembles, aber auch an die Erhaltung von Stadtgrundriss und Raumfolge bei weitgehender Veränderung der Gebäude. Geschichtliche Kontinuität schließt indes auch Ehrlichkeit gegenüber der Gegenwart ein: Geschichte lässt sich weder anhalten noch zurückdrehen. Das wiederum spricht gegen eine Art von Anpassungsarchitektur, die den Eindruck zu erwecken sucht, als handele es sich um historische Substanz. Und für eine Aneignung der Geschichte mit den Mitteln (und Formen) von heute.

Durch stadtgestalterische Maßnahmen lässt sich die public domain zwar nicht ersetzen; gleichwohl aber braucht es die Rückgewinnung eines mit den Sinnen erfahrbaren Stadtraums. So hatte der Philosoph John Dewey in seinem Buch "Kunst als Erfahrung" vehement darauf hingewiesen, wie bedeutsam die Erfahrung sinnlich wahrnehmbarer Gestaltungen für den Menschen ist. Auch wenn es - angesichts des Umstandes, dass unsere Städte zum allergrößten Teil bereits gebaut sind - oft nur einzelne Interventionen sein können: Sie sollten beispielgebend, auf die Umgebung ausstrahlend, Maßstäbe setzend sein. Und das ist alles andere als paternalistisch oder obrigkeitsstaatlich. Wenn vor einiger Zeit in Leipzig gegen die als "wahllos" empfundenen Abrisse nicht nur Denkmalschützer, sondern auch eine große Zahl an Einwohnern protestierten, und wenn daraufhin von der Stadt ein Sicherungsprogramm zur Rettung von "städtebaulich herausragenden Eckgebäuden" an Hauptstraßen vorgelegt wurde: Dann artikuliert sich hier Bürgersinn im Stadtbild.

Dies ist beileibe kein singuläres Phänomen: Ein diffuses Gefühl, dass städtische Umgebungen durch Bauwut, Planungswahnsinn und Immobilienspekulation zusehends an Attraktivität einbüßen, hatte sich vor einiger Zeit in Locarno zu ausgesprochenem Unmut verdichtet. Auslöser dafür war offenbar ein im "Corriere del Ticino" veröffentlichter Leserbrief eines deutschen Ehepaars, das sich bei der Stadtpräsidentin über die vielen Bausünden beklagte und mitteilte, es werde künftig seine Ferien lieber anderswo verbringen. Dem offenen Brief folgte eine heftige, bald auch von anderen Medien aufgenommene Debatte. Fast täglich meldeten sich Politiker, Tourismusvertreter, Stadtplaner, Architekten und Kulturschaffende zu Wort und veröffentlichten eine Flut von Leserbriefen. Fast unisono wurde gefordert, dass endlich etwas gegen die grassierende Verschandelung unternommen werden müsse. Vehement wandte man sich gegen eine "Zukunft der Leere und des Zements". Nie zuvor hat wohl in der Schweiz die Bevölkerung einer Stadt so lautstark gegen den architektonischen Niedergang rebelliert. Zwar mag diese Episode Züge einer Lokalposse tragen, doch muss man konzedieren, dass es vielerorts ein Unbehagen gibt, welches indes kaum einmal in proaktiv-gestaltende Bahnen gelenkt werden kann.

Locarno. Bild: StevenCH. Lizenz: CC-BY-SA-3.0

Stadtgestaltung ist, das illustrieren solche Beispiele, eine gesellschaftliche Aufgabe, zumindest latent. "Das Unübersehbare, Nicht-Lesbare, nicht nach einem erkennbaren Prinzip Geordnete, also chaotisch Erscheinende", so Ulrich Conrads, "provoziert zu allen Zeiten das Bedürfnis, es 'in Ordnung' zu bringen, ihm ein Prinzip einzuverleiben oder überzustülpen, auf daß sich das scheinbar Ungeordnete nach diesem ausrichte." Weil sich die geltenden Vorstellungen von rationaler Ordnung aber ändern, wird auch die Stadt ständiger Veränderung unterzogen. Oft genug ist dafür der Überdruss an der (vor)letzten architektonischen Mode ursächlich. Diesen Wandel aushalten zu können, ohne seine Identität zu verlieren, wird zur zentralen Forderung an den Städtebau. Ausgangspunkt und zentrale Komponente ist, auch unter heutigen Bedingungen, der öffentliche Raum der Straßen und Plätze, also die Überlagerung von technischen Infrastruktur-Bausteinen einerseits und stadträumlichen Elementen andererseits.

Doch Gestaltungsanspruch auf ein Ordnungsbedürfnis zu reduzieren, hieße, die eigentlichen Dimensionen zu verkennen. Und man muss sehen, dass sie (zumindest) auf dreierlei Vorbehalte stößt: Zum ersten berührt sie geschmackliche Präferenzen, die sich heute ebenso ausdifferenziert haben wie die Gesellschaft insgesamt. Was die Wahrung der res publica anbelangt, hat dies längst Spuren hinterlassen. Das ästhetische Urteil scheint heute ein Tabu nicht zuletzt in der staatlich repräsentierten Stadtplanung zu sein, die durch objektivierbare "Erfordernisse" bzw. wissenschaftliche Methoden und nicht durch subjektive Meinung hoheitliche Aufgaben wahrnehmen soll. In der Praxis hat dies eine weit verbreitete Verweigerungshaltung bei jeder Art von gestalterischen Problemen zur Folge, die ihrem Gegenstand als per se ästhetischem - nämlich dem wahrnehmbaren materiellen Objekt - nicht angemessen sein kann.

Zum zweiten hat man es in dieser Frage schnell mit einer Art zivilgesellschaftlicher Abwehrhaltung zu tun: Denn Stadtgestaltung wird stets auch als Einschränkung individueller Entfaltungsmöglichkeit empfunden. Wenn laissez-faire die vorherrschende Grundeinstellung ist, dann hat die Akzeptanz einer "Kollektivform" es schwer.

Zum dritten wird man mitunter mit dem Vorwurf konfrontiert, man rede der Ästhetisierung der Alltagswert das Wort. Es lenke ab von sozialen, ökonomischen, politischen, ökologischen und anderen Problemen und verschleiere und verstärke kritikwürdige Strukturen. Hartmut Häußermann und Walter Siebel haben, wie viele andere auch, solche Einwände formuliert. Doch die beiden Stadtsoziologen stellen auch fest:

Dass Architektur Herrschaft ästhetisiert, ist eine Plattheit, und würde man daraus die Konsequenz ziehen, es dürfe solange nur hässlich gebaut werden, wie das Elend und die Ungerechtigkeit dieser Welt nicht beseitigt sind, so wäre es obendrein Barbarei. Stadtgestaltung ist mehr und grundsätzlich anderes als das Spielen mit Räumen, Licht und Farbe. Sie ist immer auch konkreter Eingriff in Lebensweisen von Menschen.

Freilich ist muss man sich dabei - und vorweg - mit der heute schier allumfassenden Tendenz auseinandersetzen, das menschliche Dasein in seiner gebauten Umwelt auf ein Kosten/Nutzen-Denken zu minimieren und zu reduzieren.

Gestaltung nur noch punktuell

Man kann nicht nicht gestalten. Wohl aber ignorieren, welche Auswirkungen Gestaltung auf die Lebensweisen von Menschen haben kann. Besonders wenn Stadtgestaltung mehr und mehr die Sache von Investoren, von ihren Spekulationen und Gewinnabsichten ist, stellt sich die Frage, wie sie die Lebensbedingungen derer prägt, die nicht von ihr profitieren. Städtebau braucht Identifikation und Symbole, er darf aber nicht zur (reinen) Symbolpolitik werden, darf sich nicht in "Embellissement" erschöpfen. (Wenn er auf eine klassische Vorstellung von Ordnung und Schönheit setzt, erschöpft er sich häufig darin, die Innenstädte mit historisierenden Fassaden zu schmücken, während daneben die banalen Hüllen der Shopping-Malls, Entertainment-Center und Multiplexe sprießen.) Gerade weil die städtische Identitätspolitik unter den gegenwärtigen Bedingungen einer verschärften kommunalen Konkurrenz um Wachstum an Wirtschaftskraft und Einwohnern unterliegt, schwebt sie in der Gefahr, sich nur an ausgesuchten innerstädtischen Orten - also bloß punktuell - stadtgestalterisch zu engagieren. Ebenso unübersehbar wie bedenklich ist heute der Trend, dass manche Kommunen allein die Bereiche entwickeln, die sich imagekompatibel vermarkten lassen, während an Interventionen in Problemstadtteilen nur wenig Interesse besteht.

Unabhängig davon bleiben Mittel und Instrumente für die Stadtgestaltung eine offene Frage. Denn Verwaltungsakte, auch Gestaltungs- und Erhaltungsvorschriften sind, eher häufig als selten, wenig geeignet. Im Gegenteil: Mit der naiven Vorstellung, Gestaltverfall auf dem Verordnungswege eindämmen zu können, Gestaltqualitäten gewissermaßen justiziabel vorzuzeichnen, leistet bürokratisches Reglement der Entwicklung eher Vorschub. Denn man schreibt die äußerlichen Akzidenzien von Räumen und Gebäuden fest, die Fenstersprossen, Dachneigungen, Beläge, Farben und anderes mehr. Solcherart Rezepte aber bewirken nicht unbedingt Gestaltqualität; vielmehr können sie verhängnisvoll darüber hinwegtäuschen, dass diese mehr ist als die Summe ihrer verordneten Teile. Erfolgversprechende Stadtgestaltung hingegen ist permanente Detailarbeit, ist ein sanftes Steuern von Prozessen, die am besten von selbst laufen, angetrieben von wirtschaftlichen Notwendigkeiten oder von echten gesellschaftlichen Veränderungen. Sie ist aber auch Überzeugungsarbeit; ist eine stete, im einzelnen oft mühsame und konfliktreiche Begleitung von langwierigen Prozessen. Dem widerspricht nicht, dass natürlich auch gezielt normsetzende Kraftakte im Stadtraum vonnöten sind.

Stadtgestaltung hat etwas zu tun mit kulturgeschichtlichem Bewusstsein. Sie berührt damit auch jenen Parallelismus, den Friedrich Schlegel einst forderte:

Was die Materie des Wissens betrifft, muss sich die Philosophie auflösen in Physik und Geschichte.

Gemeint ist das empirische Wissen, welches Gesetze und Entscheidungen aus Erfahrung und Beobachtung herleitet, und das gerade beim Städtebau von entscheidender Bedeutung ist. Markenzeichen eines solchen Bewusstseins sei, dass man sich innerhalb des (Vor)Wissens bewegt, sich ‚haushaltend‘ damit auseinandersetzt, dass man Anwendung, Zweck und Gebrauch bedenkt, vorhandenen und möglichen Widersprüchen begegnet und gleichwohl nach der Gesetzmäßigkeit sucht. Doch die Frage nach dem Wert überlieferter Fertigkeiten wird kaum je mehr gestellt. Ein Kennzeichen der Moderne schlechthin?

Komplexe Gebilde - und was wäre komplexer als Stadt - geraten in Verwirrung, wenn man versucht, angeschlagene Teilbereiche losgelöst vom Gesamtzusammenhang zu verbessern. Was unmittelbar deutlich macht, dass Planung und Gestaltung einander brauchen und ergänzen; sie sind Kehrseiten ein und derselben Medaille. Dabei sollte man sich in Erinnerung rufen, dass Stadt gestaltbarer ist als vielfach - vorschnell und zu resignativ - angenommen wird. Nicht nur Architekten und Planer, auch Bürger sollten sich endlich (wieder) als das begreifen, was sie auch sind: Nämlich Subjekte und Akteure im Prozess der Stadtbildung und -gestaltung.