Vom Kannibalismus

Traktat über das Gruseln beim Essen

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"Das Wahrnehmen unartikulierter Formen erzeugt ein ästhetisches Vergnügen." So zynisch dürfen nur kühl denkende Ethnologen wie Mary Douglas über abseitige Formen menschlichen Verhaltens schreiben. Kannibalismus ist eines der letzten wirklichen Tabus, aber man kann es brechen. In allen Kulturen gilt das Verzehren eines Menschen als ultimativer Angriff auf die Person. Nur Privilegierte dürfen töten und haben das Monopol darauf. Wer die letzten Tabus bricht, wird im religiösen Sinn "heilig" - übersetzt: "abgesondert". Der Heilige steht jenseits der Norm und verwandelt sich, weicht er exemplarisch von der Norm ab, zu einem Sinnbild des moralisch Verbotenen. Der gesellschaftliche Diskurs ähnelt einem schamanistischen Ritual. Er beschwört das Böse zuerst in symbolischer Form, inszeniert vor dem Publikum die dazu passenden Gefühle, erzählt die Moral von der Geschicht' und bannt es damit. Das Tabu gehört zum erlaubten Verhalten wie der Schatten zum Licht.

Das Märchen Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen diskutiert, warum jemand bestimmte Gefühle nicht hat, die man gemeinhin als selbstverständlich voraussetzt. Der Held konstatiert zu Beginn: "Mir gruselts nicht: das wird wohl eine Kunst sein, von der ich auch nichts verstehe."

Das Problem ist so alt wie die Menschheit und die Tabus, die sie sich jeweils gibt, und wird immer ungelöst bleiben. Warum sollte es einen vor Dr. Hannibal Lecter gruseln? Dessen Attribut "Serienkiller" zeigt, dass es ein mühsames Unterfangen ist, einen Superlativ des Bösen zu definieren, der unpassende Vergleiche wie mit dem Massenmord der Shoa vermeidet. Anthony Hopkins jedoch kann Adolf Eichmann toppen, weil seine Attribute demonstrieren, dass die traditionellen Methoden jemanden zu disziplinieren, nicht immer funktionieren: der verschnürte Lecter mit Ledermaske zeigt symbolisch das "Unartikulierte". Der Kannibale ist Doktor, und hinter der gesellschaftlich akzeptierten Fassade kann das Grauen jederzeit und unerwartet hervorbrechen. Diese Dissonanz ist ästhetisch anspruchsvoll - und gruselt. Das Böse ist nicht banal, wie bei Adolf Eichmann, sondern nimmt seine eigentliche und für alle erkennbare Gestalt an.

Gruseln ist keine individuelle Emotion, sondern existiert nur vor der Folie kollektiver Erfahrungen. Gruseln ist Teil der säkularen Alltagsreligion, die Gefühle kanalisiert und ihnen gestattet, nur bestimmte Formen anzunehmen. Was als "unbeherrscht" oder auch "unartikuliert" gilt, ist Produkt einer jahrhundertelangen kollektiven Erziehung. Deren Ergebnisse werden durch kulturelle Praxen im Unbewussten gespeichert. Norbert Elias' Jahrhundertwerk Der Prozess der Zivilisation diskutiert im Detail, wann welches Verhalten als "züchtig", "maßvoll", "vornehm" - also als "passend" oder "unpassend" gilt. Gegen den Verzehr von Menschenfleisch spricht aber medizinisch genauso viel oder wenig wie gegen das Essen von Schweinefleisch . Warum also die Aufregung?

Märchen sollen lustvoll gruseln. Niemand käme auf den Gedanken, Kindern Märchen zu verbieten, obwohl Kannibalismus dort oft beiläufig beschrieben wird, als sei es normal, kleine Kinder auf dem Speiseplan zu haben. In der Geschichte "Von dem Machandelboom" (Wacholder) schlachtet die (Stief-)Mutter einen Jungen und verarbeitet ihn zu Schwarzsauer. Dem Vater, der davon nichts weiß, schmeckt die Mahlzeit. Der getötete Junge hat sich jedoch in einen Vogel verwandelt und verrät alles:

"Mein Mutter der mich schlacht
Mein Vater der mich aß
Mein Schwester der Marleenichen
Sucht alle meine Beenichen
Und bind't se in ein seiden Tuch
Legts unter der Machandelboom
Kywitt! Kywitt! ach watt een schoin fugel bin ik."

Die zum Gruseln gehörige Körperreaktion ist die Gänsehaut (lat: "Cutis anserina" oder "Reactio pilomotorica"), eine Mischung aus Abwehr und Adrenalin-Ausstoß. Beides hat sich in der menschlichen Revolution als typische und angemessene Reaktion bei Gefahr herausgebildet. Die Gänsehaut, so würde es Elias Cannetti formulieren, ist mit dem Essen und Zähneblecken verwandt:

"Das auffälligste Instrument der Macht, das der Mensch und auch sehr viele Tiere an sich tragen, sind die Zähne."

Sowohl das Einverleiben als auch das Lachen sind zwei Formen der Inszenierung gesellschaftlicher Hierarchien: "Alles, was gegessen wird, ist Gegenstand der Macht." Das gemeinsame Essen inszeniert Gesellschaft: Die Mutter aller Abendmahle von Leonardo da Vinci, der gemeinsame Verzehr eines gemeinsamen Brotlaibes, demonstriert Frieden. Und Canetti entschlüsselt in "Masse und Macht" grimmig und kühl analysierend die geheime gruppendynamische Botschaft:

"Man sitzt beisammen, man entblößt seine Zähne, man ißt, und sogar in diesem kritischen Augenblick überkommt einen kein Appetit auf den anderen. Man achtet sich dafür."

Auch im aktuellen Fall - kein Doktor, sondern ein Ingenieur verspeist, angeblich in gegenseitigem Einvernehmen, einen Sysop folgt die Dramaturgie der individuellen Tat unbewussten kollektiven Regeln (Das Böse ist immer und überall).

"Wer für sich allein ißt, verzichtet damit auf das Ansehen, das ihm diese Prozedur bei den andern verschafft."

Diese rätselhafte Formulierung Canettis bringt die Angelegenheit aber auf den Punkt. Wer sich umbringen will, kann das allein tun. Aber es geht um mehr. Eine Evolution der relevanten kulturellen Praxen während der Mahlzeit würde folgende Reihenfolge vorgeben: Zähneblecken als Form der Aggression, Lachen als symbolische Aussage, sich nicht "unbeherrscht" verhalten zu wollen, einverleiben - das Verzehrte wird Teil des Selbst und ist somit allen gemeinsam. Canettis Traktat über die Psychologie des Essens trägt sinnigerweise den Titel "Die Eingeweide der Macht."

"Man lacht, anstatt es zu essen. Die entgangene Speise ist es, die zum Lachen reizt; das plötzliche Gefühl der Überlegenheit, wie schon Hobbes gesagt hat ... Es scheint, daß die Bewegungen, die vom Zwerchfell ausgehen und fürs Lachen charakteristisch sind, eine Reihe von inneren Schlingbewegungen des Leibes zusammenfassend ersetzen."

Das Opfer ist verloren und verliert sich, indem es in einem Willensakt Teil des anderes wird.

Der Kannibalismus-Diskurs ist letztlich Moraltheologie: ein Abwehrzauber, der kollektive mentale und physische Reaktionen beschwört und auf dem darauf folgenden moralische Impetus besteht, das Gute zu tun und das Böse zu lassen. Das Lachen gehört zum Abwehrzauber wie das Zähneblecken. Die Probe aufs Exempel: Was ist makaber, was reizt trotzdem oder gerade darum zum Lachen?

The word "barbecue" has an interesting history. It comes from the Carib word barbricot (www.zompist.com/indianwd.html). The Caribs - whence the word "cannibal" - used the barbricot, a grill made of green boughs, to prepare their cannibal feasts.

Marvin Harris

Die Anthropophagie, der Kannibalismus, weil man schlicht Hunger hat, ist ohnehin schon seit langem Teil der Internet-Folklore - und niemandem wird es gelingen, über das Tier, das in Douglas Adams "Per Anhalter durch die Galaxis" sich selbst zum Verzehr anbietet, nicht zu schmunzeln: "Das Schwanzstück ist sehr gut, ich habe es viel bewegt", brummte das Milchtier, "deshalb habe ich dort viel gutes Fleisch."

Nur wer Rituale wirklich ernst nimmt, kann hier nicht mehr lachen: "Es gibt Personen, wie die christlichen Zeugen Jehovas, die alle Transplantationen von Mensch zu Mensch als Kannibalismus betrachten. Ist es nicht Kannibalismus, das Fleisch eines anderen Menschen zu verwenden, um das eigene Leben zu erhalten?" (Erwachet!, 8. September 1968)