Von der Risiko- zur Möglichkeitsgesellschaft

Ulrich Beck (1999). Bild: Andreas Bohnenstengel/CC BY-SA-3.0

Ein Gespräch mit dem Soziologen Ulrich Beck

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Der Münchner Soziologe Ulrich Beck, bekanntgeworden durch sein Buch "Risikogesellschaft", sucht unermüdlich nach neuen Diagnosen der Gegenwart. Jetzt hat er den Begriff der "Zweiten Moderne" geprägt und versucht, weniger nach den Risiken denn nach den Chancen zu fragen, die aus der Globalisierung, dem Schwinden der Arbeit, der Individualisierung und der Krise des Nationalstaates entstehen. Im Gespräch - in Telepolis am 14.1.1997 erschienen, legt er den neuen Möglichkeitsraum und seine Untiefen dar.

Erosion der Erwerbsarbeit

Sie behaupten, daß eine Weltordnung zusammengebrochen sei und wir in das Zeitalter einer "zweiten Moderne" eingetreten wären. Zu welcher Zeit ist denn etwas Neues entstanden und woran machen Sie eine solche epochale Veränderung fest? Zur Zeit geistern ja viele Begriffe herum, die stets im Zeichen wechselseitiger Überbietung ganz neue Trends oder eine Revolution propagieren.

Ulrich Beck: Bei dieser Vermutung handelt es sich wie häufig zunächst einmal um eine Zuspitzung, aus der eine Debatte entstehen soll. Mein Eindruck ist, daß die Semantik der Industriegesellschaft, die ganzen Kategorien des Kapitalismus und auch die Versuche, über diese hinauszukommen, wie dies von den Theorien der Postmoderne vorgeschlagen wurde, weitgehend leer geworden sind. Wir haben keine angemessenen Kategorien mehr, um die aktuelle Situation zu beschreiben. Das läßt sich vielleicht am eindringlichsten an der Erwerbsarbeit und der Arbeitslosigkeit sehen. Ansätze, über Erwerbsarbeit hinauszudenken, sind zur Naivität und zum fehlenden Realismus verurteilt, obwohl nichts dringlicher wäre, als solche zu entwickeln.

Ich glaube, daß die Dynamik, die die moderne Gesellschaft in Gang gesetzt hat, insofern immer etwas zu zahm gesehen wird, als niemals systematisch erwogen wurde, daß sie ihre eigenen Voraussetzungen in der Kontinuität ihrer normalen Dynamik aufhebt. Das ist uns Einwohnern der Industriezivilisation vielleicht vertrauter als den Bewohnern eines traditionellen Milieus, weil sie diese alltäglich revolutionäre Macht des Industriekapitals deutlicher zu spüren bekommen haben.

Nach meiner Einschätzung, die sowohl auf theoretischen Überlegungen als auch auf empirischen Befunden beruht, läßt sich der Umbruch zur zweiten Moderne in den hochentwickelten Ländern etwa in den 60er und 70er Jahren beobachten und durch handfeste Indikatoren belegen. Dabei handelt es sich im wesentlichen um Folgen der Bildungsexpansion, damit auch der "Feminisierung" der Bildung, die Konsequenzen sowohl für die Privatsphäre hatte, weil Frauen und Männer ihre herkömmlichen Rollen nicht mehr weiterführen konnten, als auch für den Arbeitsmarkt, weil dadurch ein enormer Zuwachs der Nachfrage an Arbeit entstand. Die herrschende Arbeitslosigkeit entsteht also nicht nur durch den Wegfall von Arbeitsplätzen. Vor allem Frauen, aber auch Jugendliche und sogar Rentner drängen auf den Arbeitsmarkt. Dadurch hat sich ein Muster der Lebensführung verallgemeinert, das in der Industriegesellschaft schon immer existiert hat, nämlich daß die eigene, an Erwerbsarbeit gebundene Lebensplanung zu einem verbindlichen Muster wird. Parallel läßt sich zeigen, daß die Rationalisierungsmaßnahmen nicht nur Arbeitsplätze reduzieren, sondern auch die Produktivität steigern, so daß immer weniger Arbeit benötigt wird und Arbeit immer stärker auf Wissen und Kapital aufbaut.

Wir haben das in der Kommission für Zukunftsfragen der Freistaaten Sachsen und Bayern, der ich angehöre, sehr systematisch analysiert und glauben, daß der Umbruch, zumindest was die Arbeitssituation betrifft und quer zu allen politischen Programmen der Einzelregierungen, sich in den 70er Jahren durchgesetzt hat. Er dokumentiert sich beispielsweise an wachsenden Unterbeschäftigungsformen und anderen Arbeitsformen, die das schrumpfende Volumen der Erwerbsarbeit verdecken. Obwohl immer mehr Menschen in Arbeitsprozesse integriert werden, geschieht dies auf Teilzeitbasis oder prekären Beschäftigungsverhältnissen. Dieser Anteil, der unter dem Deckmantel des Beschäftigungsverhältnisses schon zu ganz anderen Lebensformen führte, ist bei uns inzwischen auf ein Drittel angestiegen, in den USA oder in Großbritannien ist er noch weit höher. Das sind Beispiele, an denen deutlich wird, daß die normale Dynamik der Modernisierung, also Rückgang der Erwerbsarbeit, Bildungsexpansion oder Rationalisierung, was ja alles Begriffe sind, die nicht auf einen revolutionären Bruch hinweisen, über sich selbst hinausgeht.

Daniell Bell hat beispielsweise in ähnlicher Weise von der postindustriellen Gesellschaft gesprochen. Wo geht Ihr Ansatz einer zweiten Moderne darüber hinaus?

Ulrich Beck: Der Begriff der postindustriellen Gesellschaft ging nur von der sektoralen Verschiebung auf die Dienstleistung aus.

Das wird uns heute ja auch noch allerorten empfohlen. Man glaubt, daß man die schwindenden Arbeitsplätze im produktiven Sektor durch neu zu schaffende im Dienstleistungssektor ersetzen könne und müsse. Deswegen wird immer wieder die Orientierung an den USA empfohlen. Sie würden aber sagen, wenn ich Sie recht verstanden habe, daß das Arbeitsvolumen in allen Sektoren weniger wird.

Ulrich Beck: Das muß man sich genauer anschauen. Die USA sind den Weg der kleinen Dienste gegangen: Tätigkeiten im Haushalt oder in Gaststätten machen den Unterschied in den Beschäftigungsverhältnissen aus. Bei uns trifft diese Umstellung offenbar nicht auf den nötigen kulturellen Widerhall. Darüber hinaus muß diese Entwicklung, die sich ganz gut im Unterschied zwischen Deutschland und den USA sehen läßt, aber als politische Frage gestellt werden, was bislang nicht angemessen diskutiert wurde.

Auf der einen Seite wird sichtbar, daß wir einfach mit sehr viel weniger Arbeit sehr viel mehr produzieren können. Wir brauchen also weniger Arbeitskräfte, um mehr Profit oder Dienstleistung zu produzieren. Das ist eine Situation, die vielen als katastrophal erscheint, weil sie die Grundlagen des bisherigen Erwerbssystems und auch der darauf aufbauenden Demokratie gefährdet. Auf der anderen Seite ist das eine Situation, die eigentlich sehr erstrebenswert ist, weil die Mühen der Arbeit nicht mehr in demselben Maße notwendig sind, um den Reichtum der Gesellschaft zu schaffen und deren Probleme zu lösen.

An diese Situation sollte man also die Frage knüpfen, wie man mit diesem potentiellen Mehr an Freiheit von der Arbeit umgehen kann. Darauf aber gibt es bislang nur die Antwort, wieder alle Menschen irgendwie in Arbeitsprozesse zu integrieren. Das ist die Vollbeschäftigungsfixierung, über die wir historisch bereits ein Stück hinaus sind. Gibt es aber nicht eine sinnvolle Entwicklung der modernen Gesellschaft, in der die Integration und materielle Sicherung über Arbeit gegenüber anderen Aktivitätsformen eine geringere Rolle spielt? Diese Frage wird nicht systematisch erörtert. Und das ist eine Frage der zweiten Moderne.

Im Augenblick dominiert offenbar auf der politischen Ebene die altmoderne Ideologie des Neoliberalismus. Die Schere zwischen den Reichen und dem Rest der Bevölkerung öffnet sich gleichzeitig immer weiter. Früher hat man als Schreckgespenst von der Zweidrittel-Gesellschaft gesprochen, heute spricht man schon von der Einfünftel-Gesellschaft. Wenn Sie sagen, daß insgesamt Arbeit weniger wird, dann geht dies noch tiefer als bisher ans Einkommen und an den sozialstaatlichen Ausgleich. Die Ungleichheit wird sich zunächst also noch weiter verstärken. Wenn man das ausgleichen sollte, dann müßte man nicht nur Arbeit anders verteilen, sondern vor allem auch das Vermögen. Dann wären wir aber wieder bei modernen, wenn auch etwas jüngeren sozialistischen Ideen.

Ulrich Beck: Nein, der Meinung bin ich nicht. Aber man muß das Verteilungsproblem neu stellen. Das ist völlig richtig. Es ist eine Illusion, daß man über Erwerbsarbeit alle Probleme der Gesellschaft, also die materielle, soziale und psychische Integration, lösen kann, weil das Arbeitsvolumen einfach schrumpft. Insofern läuft der Neoliberalismus, was Pierre Bourdieu immer wieder betont, auf den Ausschluß immer größerer Bevölkerungsgruppen zu. Bourdieu rät allen militanten Neoliberalen, sich einmal für eine gewisse Zeit in die Favelas Südamerikas oder in die Gettos Nordamerikas zu begeben und zu sehen, was sie eigentlich auslösen. Neoliberalismus ist eine politische Blindheit, ein politisches Analphabetentum.

Die neoliberalistische Ideologie entwickelt sich jetzt interessanterweise stärker in Deutschland, während diese Tendenz in Großbritannien erheblich abklingt. Hier sieht man die Folgen des Neoliberalismus deutlich. Der Aufschwung von Tony Blair ist eben die Folge eines Anti-Thatcherismus. Auch in den USA werden die Folgen des Neoliberalismus viel stärker bemerkt, als dies zu uns herüber dringt: die Überfüllung der Gefängnisse, die Unlösbarkeit der Gettos und andere Probleme, die inzwischen die Öffentlichkeit beschäftigen.