Zensurrätsel mit überraschender Auflösung

Wie Geheimnistuerei das Image von Unternehmen auch ohne eigenes Verschulden schädigen kann

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Am Montag verlegte Google seinen chinesischen Webauftritt nach Hong Kong und ließ sich in westlichen Medien dafür feiern, dass es nun chinesische Suchanfragen unzensiert beantwortet. Doch anderswo filtert Google durchaus - und es lässt sich teilweise nur schwer oder gar nicht herausfinden, was die Rechtsgrundlagen oder die Hintergründe für nicht angezeigte Inhalte sind.

In Deutschland erweckte Google beispielsweise bis gestern den Eindruck, als würde es die Website www.braunbuch.de nicht geben. Das teilte uns ein über den Konzern erboster Leser mit. Gab man nämlich die Domain als ausschließlichen Suchort an, dann erschien nicht einmal eine Meldung, die eine Begründung für eine Nichtanzeige angab. Auch andere Suchanfragetests ließen nur den Schluss zu, dass die Domain komplett aus dem Suchindex herausgenommen wurde, obwohl sie durchaus häufiger verlinkt ist.

Auf eine Anfrage von Telepolis teilte die deutsche Google-Pressestelle mit, dass man "vermute", dass www.braunbuch.de von der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien (BPjM) indiziert worden sei. Das, so der Pressesprecher, wolle man aber noch verifizieren. Allerdings ergab eine von Telepolis durchgeführte Nachfrage bei der BPjM-Sprecherin Sabine Ahmed, dass dort bezüglich der URL "derzeit keine Erkenntnisse" vorliegen. Auf dem Index war das Angebot also nicht. Anfragen, die Google mit dieser Auskunft der Bundesprüfstelle konfrontieren, bleiben unbeantwortet.

Die Site www.braunbuch.de besteht im Grunde aus einem für das Web aufbereiteten alten Buch. Bei ihm handelt es sich nicht, wie man vom Namen her denken könnte, um ein nationalsozialistisches Werk, sondern - im Gegenteil - um eine vom Dokumentationszentrum der Staatlichen Archivverwaltung der DDR herausgegebene Materialsammlung1, welche eine personelle Kontinuität zwischen Nazideutschland und der Bundesrepublik dokumentieren sollte. Die in ihrer ersten Auflage bereits 1965 erschienene Sammlung enthielt Aktenauszüge, Dienstgradangaben und andere Informationen zur NS-Vergangenheit von 828 Richtern, Staatsanwälten und hohen Justizbeamten, 297 Führungskräften bei Polizei und Verfassungsschutz, 245 im Auswärtigen Amt und im Diplomatischen Dienst Beschäftigten, etwa 100 Generälen und Admirälen, 15 Ministern und Staatssekretären sowie zahlreichen Wirtschaftsführern, Professoren und anderen Prominenten.

1967 wurde die Materialsammlung zwar auf der Frankfurter Buchmesse beschlagnahmt - dass diese Beschlagnahme auch heute noch Rechtswirkung entfaltet, ist jedoch insofern unwahrscheinlich, als sich fast alle der damals von Betroffenen geleugneten Vorwürfe in weiteren Forschungen als zutreffend erwiesen und das Buch 2002 ohne rechtliche Schwierigkeiten neu aufgelegt werden konnte. Möglich wäre freilich, dass die verhältnismäßig wenigen Namensverwechslungen, Irrtümer und absichtlichen Diskreditierungsfälschungen auf Persönlichkeitsrechten beruhende Verbotsklagen zur Folge haben könnten. Allerdings konnte Google auch hierzu nichts Konkretes aufführen.

Ebenso wenig lieferte der Konzern Beschwerden über die Verletzung "geistiger Eigentumsrechte" als Begründung für sein Filtern. Ob und inwieweit jemand Immaterialgüterrechte an der in den 1960er Jahren erschienenen Materialsammlung hält, ist ohnehin nicht klar. Die DDR präsentierte das Buch als Kollektivleistung ohne persönliche Namenskennzeichnungen, was Urheberrechtsansprüche zumindest erschwert. 2002 erschien in der Edition Ost der Eulenspiegel-Verlagsgruppe eine Neuauflage, für die Norbert Podewin als Herausgeber fungierte, der in den 1960er Jahren innerhalb einer Arbeitsgruppe an dem Werk mitarbeitete.2 Der Eulenspiegel-Verlag sieht die mittlerweile verstorbenen Journalisten Albert Norden und Gerhard Dengler als Urheber des Braunbuchs. Nutzungsrechte erwarb er nach eigenen Angaben über Dengler und Podewin, welche sie dem Verlag Das Neue Berlin für eine kommentierte Reprintausgabe überschrieben. Rechte am alten Werk, so heißt es gegenüber Telepolis, beanspruche man aber nicht.

Die Lösung des Zensurrätsels, in dem sich der Suchmaschinenkonzern doch noch als unschuldig erweist, lieferte schließlich Daniel Weigelt, der nicht ganz verzögerungsfrei kontaktierbare Webmaster von braunbuch.de. Er hatte die Site nämlich aus nicht näher konkretisierten "privaten Gründen" selbst aus dem Google-Index herausgenommen, kündigte aber an, dies wieder ändern zu wollen. Offen bleibt, wieso der zwar deutlich besser erreichbare, aber in gleichem Maße sparsamer mit Presseauskünften hantierende IT-Gigant diese für sich eigentlich günstige Antwort nicht liefern konnte.

Update: Mittlerweile ist die Site schon wieder im Google-Index und wird bei Suchen mit "Braunbuch" an zweiter Stelle ausgegeben