Missing Link: Kreative Verschwendung in der Rebound-Gesellschaft

Seite 2: Fossiler Kapitalismus

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Bemerkenswert ist Fredericks Begründung für das Prinzip, nicht die Befriedigung von Bedürfnissen ist das Ziel, wir haben es ihr zufolge mit einem systemischen Imperativ zu tun: Die Industrie ermöglicht nicht nur die Verschwendung, sie fordert sie gleichzeitig ein, zieht sie zwangsläufig nach sich, macht sie zwingend erforderlich! Sie stellt auch die Verbindung zu Energie und Maschinen, erst mit der Industrialisierung ist so eine Ideologie überhaupt erst möglich, das Wachstum, wie wir es heute kennen, ist untrennbar verbunden mit der Entfesselung der fossilen Energieträger.

Im Jahr 1825 war England, die Wiege der Industrialisierung, für 80 Prozent der weltweiten menschengemachten CO2-Ausstoss verantwortlich, 1850 immer noch 60 Prozent. Mit der industriellen Revolution ging auch die Ausbeutung fossiler Energiequellen im Weltmaßstab einher, Kohle wurde nicht mehr zum Heizen verfeuert, sondern wurde zum Treibstoff der gesamten Industrie. Der Zusammenhang von Industrie und fossilen Energieträgern, die Fabriken des Industrialismus wurden nicht mehr wie die Mühle am rauschenden Bach entsprechend natürlicher Gegebenheiten positioniert, sondern ganz und gar von diesen unabhängig gemacht, Rohstoffe, Energie und Arbeitskräfte wurden mobil, diese mussten fortan zur Fabrik bewegt werden, zu den Arbeitsplätzen, anstatt umgekehrt.

Das Wachstum der Wirtschaft ist seit den Zeiten der Industrialisierung untrennbar verbunden mit einer Zunahme der Konsumption fossiler Energie. Der preisgekrönte schwedische Autor Andreas Malm definiert den fossilen Kapitalismus als "eine Wirtschaft des selbsttragenden, eigenständigen Wachstums, die auf der wachsenden Konsumtion fossiler Brennstoffe beruht und daher ein anhaltendes Wachstum der Kohlendioxidemissionen nach sich zieht." Auch in Malms Definition des fossilen Kapitalismus sind Wachstum und Konsumption zentral, es muss immer aufwärts gehen!

Auch im Digitalen hat sich diese Logik breitgemacht: Jedes Jahr ein neues Smartphone muss es sein. Zusätzlich zur ästhetischen kommt auch noch die Obsoleszenz durch Software: Alte Geräte werden nicht mehr unterstützt, der Zwang, nachzuziehen ist allgegenwärtig. Doch das Hauptaugenmerk der Verschwendung im Digitalen hat sich von der Hardware auf die Nutzung von Software und digitaler Dienste verschoben.

Für die Digitalkonzerne aus dem Silicon Valley und deren Pendants aus China stehen immer neue Rekorde in punkto Nutzerzahlen, Traffic, Content im Vordergrund. Die Wachstumslogik des digitalen Kapitalismus lässt sich mit der aus der Spieleindustrie bekannte Formel "time on device" ausdrücken, der Maximierung der Zeit, die wir mit Geräten verbringen, Content produzieren oder konsumieren, verwertbare Aktivität an den Tag legen.

Wir kennen das von YouTubes Empfehlungs-Engine, die uns – so ein weitverbreitete Bezeichnung dafür – zum Dauerkonsum anregen soll. Das dahinterstehende Paradigma heißt – in gewohnt amerikanisch-unverblümter Weise – "Addictive Design". Hier wird nicht verhehlt, was das Konzept von seiner Zielgruppe und deren freiem Willen hält: nicht viel. Sie werden eher als Drogenabhängige gesehen, denn als mit freiem Willen begabte Kundinnen und Kunden. Appelle an die User, die Autoplay-Funktion bei Videos zu deaktivieren, weniger Cloud-Services zu nutzen, öfter mal offline zu gehen, bleiben angesichts solch brachialer Methoden seltsam zahnlos.

Datensparsamkeit? Fehlanzeige! Eigentlich lautet ja das erste Gebot und Grundregel des Datenschutzes, je weniger Daten erhoben werden, desto geringer die Missbrauchsmöglichkeiten, woraus sich das Prinzip ableitet, so viele Daten wie nötig, aber gleichzeitig so wenig wie möglich zu erfassen. Demgegenüber ist das Prinzip von Big Data (der Name lässt ja schon nichts Gutes ahnen, erinnert er doch an Big Oil oder Big Car): erstmal so viel wie möglich Daten sammeln und hinterher schauen, was damit gemacht werden kann.

Im angelsächsischen Marketing-Jargon heißt es, wer Big Data verstehen möchte, brauche sich nur die drei Vs zu merken, sie stehen für: Velocity, Variety, Volume, also Geschwindigkeit, Vielfalt, Volumen. "Diese drei Vektoren beschreiben, wie sehr sich Big Data vom Datenmanagement der alten Schule unterscheidet" proklamiert ein entsprechender Artikel auf zdnet. Kein Wunder, sprießen die Datencenter wie die Pilze aus dem Boden.

(Bild: kentoh/Shutterstock.com)

Dabei stellt sich die Frage, warum eigentlich? Was ist eigentlich so schlimm an Weniger als letztes Jahr oder auch nur gleich viel? Wer das Weniger fürchtet wie der Teufel das Weihwasser ist die sogenannte Wirtschaft, um die sich derzeit mal wieder alle Sorgen machen. Es nützt gar nichts, wenn Äcker mehr Ernte abwerfen, Maschinen mehr leisten, Rechner höher getaktet sind, die Bandbreite von Netzwerken zunimmt. Es ist nicht genug, wenn alle zu essen haben, ein Dach über dem Kopf.

Es reicht noch nicht einmal, wenn die Leistung von Computern exponentiell steigt, was in Moores Gesetz zum Ausdruck kommt, oder der Energieaufwand pro Rechenoperation exponentiell abfällt, was die beeindruckende empirische Aussage von Koomeys Gesetz erläutert – wir als Nutzerinnen und Nutzer würden uns damit vollauf zufrieden geben. Die Kapitallogik spricht aber eine andere Sprache bzw. misst in anderen Einheiten, es muss mehr verdient werden, und zwar in Euro oder Dollar. Denn wenn Dr. Zetsche von "Margen" spricht ist deren Maßeinheit bekanntlich nicht Kilogramm, MegaWatt, GigaHertz oder MegaBit/s, sondern Dollar oder Euro.

Keine Wunder also, dass alle Exponentielle stoffliche Verbesserungen, dass alle Energieeinsparungseffekte, selbst so beeindruckenden, wie die in Koomeys Gesetz zum Ausdruck kommende, nicht reichen, um zufrieden zu sein. Alle teilweise atemberaubenden Effizienz-Effekte werden überkompensiert durch das Wachstums-Paradigma, oder anders ausgedrückt: durch den gesellschaftlichen Zwang zu "kreativer Verschwendung", die ausgabefreudige kleine Schwester der "kreativen Zerstörung", so ein anderes Konzept, das auf den Ökonomen Schumpeter zurückgeht, und mit dem dieser den Drang des Kapitalismus bezeichnete, seine eigenen Grundlagen zu zerstören und immer wieder neu aufzubauen; und das sich in der digitalen Welt als Feier der "disruptiven Innovation" erstaunlicher Beliebtheit und Aktualität erfreut.

Derzeit ist es aufgrund der Corona-Krise still geworden um die Marktschreier, niemand äußert derzeit, der Markt soll es richten, Wettbewerb sei gut, Konkurrenz belebe das Geschäft, zu viel staatliche Intervention sei schlecht. Und auch die notorischen Innovatoren aus dem Silicon Valley, aus den Reihen "der Wirtschaft" sind nicht zu vernehmen, der bisher größte Hackathon wird von der Bundesregierung organisiert, nicht von Google oder SAP.

Aber es wird sicher eine Zeit kommen, in der sie wieder lauter werden, das befürchtet auch der Soziologe Hartmut Rosa, der die derzeitige Entschleunigung mit Verblüffung zur Kenntnis nimmt, aber befürchtet: "Vermutlich wollen wir danach das Wachstum wieder ankurbeln. Leute sollen konsumieren, Geld ausgeben, produzieren – zurück in die Beschleunigung."

Solange sich daran nichts ändert, solange Verschwendung intrinsisch ist, werden wir den Rebound-Effekt niemals los. Oder anders ausgedrückt: Wachstum – it’s a bug, not a feature. (bme)