Soziale Medien: Beschwerdezentrum bei Streit über Meinungsfreiheit startet
EU-Bürger können Entscheidungen darüber, was sie auf drei der größten Social-Media-Plattformen sehen und posten dürfen, jetzt über ein neues Gremium anfechten.
Betreiber großer sozialer Netzwerke lösen mit ihren Entscheidungen, was auf ihren Plattformen noch unter die Meinungsfreiheit oder die Nutzungsbedingungen fällt, oft Unmut bei den Betroffenen aus. Seit wenigen Tagen können Nutzer in den 27 EU-Mitgliedsstaaten nun gegen die Entfernung oder das Online-Bleiben von Inhalten auf Facebook, TikTok und YouTube Einspruch bei einem in Dublin ansässigen Beschwerdezentrum erheben. Das nach eigenen Angaben unabhängige Appeals Centre Europe (ACE) nimmt zunächst Eingaben auf Deutsch, Englisch, Französisch, Spanisch, Italienisch und Niederländisch entgegen. Es will die Verfahrensführung aber schrittweise auf weitere Sprachen und Plattformen ausweiten.
Wenn ein Nutzer oder eine Organisation in der EU mit der Entscheidung einer Plattform über Postings unzufrieden ist, kann er sich mit seinen Bedenken an das neue Zentrum wenden. Nach einer kostenfreien Startphase wird dafür eine Gebühr in Höhe von 5 Euro fällig. Sie soll zurückerstattet werden, wenn der Fall zugunsten des Antragstellers entschieden wird. "Jede Person, die eine berechtigte Beschwerde einreicht, wird ein Ergebnis erhalten", heißt es dazu. Arbeitsbasis der Institution ist der Digital Services Act (DSA).
Inhaltlich wird sich das Beschwerdezentrum mit Themen befassen, die von Mobbing und Belästigung über Fehlinformationen und Hassreden bis hin zu manipulierten Bildern und Videos reichen. Prüfer, die Experten für die Richtlinien der Plattformen sind, sollen beurteilen, ob die getroffene Entscheidung mit den Hausregeln vereinbar sind. Dies geschehe "auch im Hinblick auf die Menschenrechte", betonten die Macher. Das ACE sei gemäß Artikel 21 des DSA von der Coimisiún na Meán (CNAM), Irlands designiertem Digital Services Coordinator, zertifiziert. Damit einher gehe die Auflage, einen "unparteiischen, schnellen und kostengünstigen Dienst" bereitzustellen, "der unabhängig von Unternehmen und Regierungen ist".
ACE-Chef war Facebook-Aufseher
Das Zentrum soll sich hauptsächlich durch Gebühren finanzieren, die den Social-Media-Unternehmen für jeden Fall in Rechnung gestellt werden (95 Euro). Entscheide sich die Schlichtungsstelle für die Plattform, bleibe der vom Nutzer zu zahlende Beitrag bestehen. Der Betreiber müsse demnach 90 Euro zahlen.
ACE-Geschäftsführer ist der britische Menschenrechtsexperte und Ex-Direktor der Bürgerrechtsorganisation Article 19, Thomas Hughes. Er leitete seit 2020 das damals neu eingerichtete Oversight Board von Meta. Dabei handelt es sich um ein Gremium, das richtungsweisende Entscheidungen zur Inhaltsmoderation auf Facebook und Instagram als Akt der Selbstregulierung treffen soll.
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"Neue EU-Gesetze verleihen den Nutzern sozialer Medien neue Befugnisse", erläuterte Hughes mit Blick auf den DSA. Davon wolle die Mediationsinstanz Gebrauch machen. "Zwar haben Plattformen oft die richtigen Regeln", weiß der Fachmann. "Aber die schiere Anzahl der Beiträge führt dazu, dass sie diese nicht immer richtig anwenden." Und wenn Plattformen Fehler machten, zahlten die Nutzer den Preis dafür: "Berichte von Journalisten werden gelöscht, nur weil sie terroristische Gruppen benennen." Das gleiche Schicksal ereile Beiträge, die Symptome von Brustkrebs zeigen, obwohl dafür eigentlich Ausnahmen gälten. In anderen Fällen bleibe richtlinienverletzender Hass online, "da Leute das System austricksen".
Startfinanzierung vom Facebook Oversight Board
Anfragen von heise online, wer hinter der Mediationsinstanz steckt und wie dessen Geschäftsmodell konkret aussieht, beantwortete ACE nicht. Eine CNAM-Sprecherin erklärte, die Medienaufsicht habe die Institution "nach einer gründlichen und fundierten Prüfung ihres Antrags als außergerichtliche Streitbeilegungsstelle zertifiziert". Man sei davon überzeugt, "dass die vorhandenen Prozesse und Verfahren sowie die von Appeals Centre Europe umgesetzten Abhilfemaßnahmen ausreichen, um die Einhaltung der Unabhängigkeitsbedingung nachzuweisen".
Die CNAM-Vertreterin räumte aber auch ein, dass die Finanzierung für die anfängliche Einrichtung des Beschwerdezentrums "durch einen einmaligen Zuschuss des Oversight Board Trust erfolgte". Das hat ein Gschmäckle, da ACE-Chef Hughes hier offenbar von seinem Posten bei dem Facebook-Watchdog profitierte. Der irische Regulierer geht der Sprecherin zufolge aber davon aus, dass ACE "finanziell unabhängig sein wird". Die Finanzierung erfolge über Gebühren, "die den Social-Media-Unternehmen im Rahmen des Berufungsverfahrens in Rechnung gestellt werden". Die Vergütung der für die Beilegung von Streitigkeiten Verantwortlichen sei nicht an den Ausgang der Streitigkeiten gekoppelt. CNAM werde die Einhaltung der Zertifizierungsvoraussetzungen überwachen und gegebenenfalls einschreiten.
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Nach dem DSA sind die Entscheidungen außergerichtlicher Streitschlichtungsstellen wie des Beschwerdezentrums zwar nicht bindend. Die Plattformen müssen sich in eingeleiteten Verfahren aber "in gutem Glauben" engagieren. Hughes baut darauf, dass die ACE-Entscheidungen mit der Zeit dazu beitragen, grundsätzliche Probleme bei der Moderation von Inhalten durch soziale Netzwerke aufzudecken. Hierzulande war es auf Basis des vom DSA überholten Netzwerkdurchsetzungsgesetzes (NetzDG) möglich, dass Social-Media-Betreiber schwer bewertbare, nicht offensichtlich rechtswidrige Fälle der Freiwilligen Selbstkontrolle Multimedia-Diensteanbieter (FSM) für eine Expertenprüfung vorlegen konnten.
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(fds)