Im reproduktiven Supermarkt

Wunschkinder aus der Kühltruhe, Spermienzähler für zuhause und "reproduktive Bankkonten": Mit Sex hat die schöne neue Welt des Kinderkriegens immer weniger zu tun. Dafür umso mehr mit Macht, Geld und Kontrolle, wie Carl Djerassi, Erfinder der "Pille", im TR-Interview sagt.

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Von
  • Anwen Roberts
Inhaltsverzeichnis

Wunschkinder aus der Kühltruhe, Spermienzähler für zuhause und "reproduktive Bankkonten": Mit Sex hat die schöne neue Welt des Kinderkriegens immer weniger zu tun. Dafür umso mehr mit Macht, Geld und Kontrolle, wie Carl Djerassi, Erfinder der "Pille", im TR-Interview sagt.

In den 50er Jahren war der 1923 in Wien geborene Chemiker Carl Djerassi maßgeblich an der Entwicklung verschiedener künstlicher Steroide beteiligt. Damals gab es einen dramatischen Wettlauf um die Synthese chemischer Vorstufen menschlicher Hormone, die als Grundstoffe für orale Verhütungsmittel (der "Anti-Baby-Pille") dienten. Djerassis Forschungsgruppe in Mexiko gewann den Wettlauf, und seitdem gilt Djerassi als "Vater der Pille" – oder "Mutter", wie er selbst gerne sagt.

Der emeritierte Professor für Chemie an der Universität Stanford hat für seine Forschung zahlreiche Auszeichnungen erhalten. Heute beschäftigt er sich vor allem mit den weitreichenden gesellschaftlichen Implikationen seiner Erfindung, in Form von visionären Science-Fiction-Romanen und Theaterstücken über die Zukunft der Fortpflanzung. Ob als Naturwissenschaftler, Romancier oder Dramatiker, in 40 Jahren hat Carl Djerassi nichts von seiner Radikalität verloren.

Technology Review: In Frankreich hat gerade eine Witwe geklagt, weil sie die eingelagerte Samenprobe ihres verstorbenen Mannes nicht verwenden darf. Die Klage wurde abgewiesen. Auch in Deutschland ist es verboten, Sperma von Verstorbenen zu verwenden. Halten Sie das für antiquierte Rechtssprechung oder die ethisch notwendige Beschränkung des technisch Machbaren?

Carl Djerassi: Die Einstellung mancher Menschen in Deutschland, auch in Österreich oder Italien, finde ich grotesk. Warum sollte eine Frau nicht unter gewissen Bedingungen (wie der berühmte Fall der Diana Blood in England) ein Spermium ihres verstorbenen Mannes gebrauchen – warum soll das andere Leute etwas angehen? Das kommt einer Illegalisierung gleich, die den technischen Möglichkeiten nicht gerecht wird.

So ist etwa die intracytoplasmatische Spermieninjektion (ICSI) eine sehr wichtige, fortschrittliche Technologie, die mal verteufelt, mal ganz ignoriert wird. Wie und ob sich fortgepflanzt wird, ist allein die Angelegenheit der Fortpflanzenden, das ist meine Meinung. Andererseits braucht es natürlich logische Rechtsvorschriften. Die USA etwa haben hinsichtlich ICSI überhaupt keine Regelung, das ist genauso grotesk.

TR: In diesem Fall ist der eine Elternteil aber nicht mehr zur Mitsprache imstande.

Djerassi: Dann ist es eben an der Frau zu entscheiden; da hat sich keiner einzumischen. Mit diesen Fragen der Entscheidungshoheit, ja Zeugungshoheit befasse ich mich eingehend in meinem neuen Theaterstück Taboos. Die Hauptfigur ist eine Ärztin, die auch auf natürlichem Wege Kinder bekommen könnte, also keine Fruchtbarkeitsprobleme hat. Aber sie entscheidet sich aufgrund ihres Alters für IVF (In-Vitro-Fertilisation), weil sie so die Embryos noch vor der Implantation überprüfen kann.

TR: Liegt eine solche Mentalität nicht (noch) im Bereich der Science-Fiction? Die meisten Menschen werden doch wohl dann erst auf IVF zurückgreifen, wenn es auf natürlichem Wege nicht klappt?

Djerassi: Nein, die Zeiten sind längst vorbei. Assistierte Reproduktion wird zunehmend zu einer sehr bewussten Entscheidung. Mittlerweile sind mehrere Millionen Menschen weltweit ganz ohne Sexualverkehr geboren worden. Das sind längst nicht alles Kinder verzweifelter unfruchtbarer Paare. Viele fruchtbare Frauen verschieben eine Schwangerschaft auf die späten 30er oder frühen 40er Jahre, wo das Risiko etwa für Morbus Down viel höher ist und sie nicht an eine eventuelle Abtreibung denken möchten. Mit IVF, PID (Präimplantationsdiagnostik) und Genanalyse ist Abtreibung kein Thema mehr.

Wir sprechen hier von Menschen mit Wahlmöglichkeiten – das hat ganz andere Implikationen. Wer unfruchtbar ist, hat keine Optionen. Heutzutage kann eine Frau ja ohnehin praktisch im Alleingang ein Kind bekommen. Idealerweise ist es natürlich das Paar, das gemeinsam entscheidet – aber ansonsten geht es keinen was an. Ich bin sicher, dass sich die selbstbestimmte Fortpflanzung vor allem bei Frauen in der westlichen Welt durchsetzen wird.

TR: Das klingt, als würden Reproduktionstechnologien auf eine ganz bestimmte Klientel abzielen: auf reiche, westliche Frauen, die alles im Griff haben wollen.

Djerassi: Tatsächlich geht es fast nur um Kontrolle. Natürlich sind es vor allem wohlhabende, professionelle westliche Frauen, die diese Technologien nutzen. Aber ganz allgemein sind viele Menschen derart besessen von der Idee, Eltern zu werden, dass sie dem Vorgang der Zeugung viel zu viel und dem Resultat der Zeugung, dem Baby selbst, viel zu wenig Aufmerksamkeit schenken.

Der wichtigste Aspekt dabei ist für mich aber, dass sich genau diese Machtverhältnisse derzeit verschieben. Wenn es um geschlechtliche Fortpflanzung ging, waren die Männer seit uralten Zeiten immer ganz weit oben, die Frauen ganz weit unten. Aber nun konnten Frauen dank In-Vitro und anderen assistierten Reproduktionstechnologien (ART) etwas Macht hinzugewinnen, teilweise sogar die gesamte Macht. Sie brauchen nicht mehr zwingend den Mann dazu, auch lesbische Paare können heute Kinder bekommen – aber insbesondere in der klassischen heterosexuellen Ehe hat die Frau heute Chancen, die sie früher nicht hatte.