Datenschützer stellen staatliche Abhörbefugnisse auf den Prüfstand

Rechtsexperten sehen angesichts des Karlsruher Urteils zum Großen Lauschangriff enormen Novellierungsdruck bei zahlreichen Überwachungsgesetzen.

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Rechtsexperten sehen angesichts des Karlsruher Urteils zum Großen Lauschangriff enormen Novellierungsdruck bei staatlichen Überwachungsvorkehrungen. Mehrere Bundes- und Ländergesetze müssten angesichts der vom Bundesverfassungsgericht geforderten Rückbesinnung auf das Grundgesetz entschärft werden, waren sich Juristen auf einem Symposium des Bundesdatenschutzbeauftragten zu Folgerungen aus der Entscheidung des obersten deutschen Gerichts zur "akustischen Wohnraumüberwachung" am gestrigen Montag in Berlin einig. Den Tenor der Veranstaltung setzte Spiros Simitis, Leiter der Forschungsstelle Datenschutz der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt: Der Professor stellte klar, dass das umfangreiche Urteil über die "Fetischisierung" des zunächst besonders behüteten privaten Wohnraums hinausweise und allgemein den Schutz der Menschenwürde ins Zentrum der Gesetzgebung und Rechtsprechung rücke.

"Das Urteil stellt staatliche Eingriffsbefugnisse aller Art auf den Prüfstand", bestätigte Friedhelm Hufen, Professor für Öffentliches Recht an der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz. "Ist der Menschenwürdegehalt des Grundgesetzes betroffen, ist er für jede Staatsgewalt unantastbar und unabwägbar." Es bleibe "kein Platz da für Abwägungen". Der Schutz des "Kernbereichs privater Lebensgestaltung", von dem die Karlsruher Richter sprechen, habe Vorrang. "Dogmatische Schwierigkeiten" kommen laut Hufen aber ins Spiel, da man den von Karlsruhe nur unscharf umrissenen Schutzbereich näher interpretieren und definieren müsse. Die Verfassungsrichter hätten sich in einem Zirkelschluss bewegt: Ihr Urteil entfalte einerseits Artikel 13 des Grundgesetzes, der die Wohnung für unverletzlich erklärt, aber in Absatz 4 auch den Großen Lauschangriff zulässt. Andererseits hätten die Richter aber bei Artikel 1 angesetzt, der die Würde des Menschen als unantastbar bezeichnet. Den müsse man vorrangig "erst einmal in den Griff bekommen".

Hinweise hat das Verfassungsgericht gegeben: Neben dem eigentlichen Ansatzpunkt der Wohnung und des beispielsweise explizit erwähnten Schlafzimmers steht laut Hufen eine "funktional und personenbezogene" Dimension. Demnach seien auch "die Art, der Inhalt und die Partner der Kommunikation" ausschlaggebend für den Zwang zum Abbruch staatlicher Schnüffelmaßnahmen. Bestimmte "Ausdrucksformen der Sexualität" etwa könnten nicht nur im Schlafzimmer geschützt, anderswo aber vogelfrei sein. Auch der Grad der personellen Vertrautheit der Kommunikationspartner -- etwa innerhalb einer Familie -- sei generell bei der Überwachung zu berücksichtigen. Die Weltsicht des Verfassungsgerichts bezeichnete Hufen aber als "sozialromantisch und idyllisch", sodass die praktische Umsetzung des Urteils Herausforderungen mit sich bringe.

"Wichtige Indizien", dass die Entscheidung der Richter in den roten Roben konkrete Folgen auf die ständig zunehmende Telekommunikationsüberwachung habe, hat Christoph Gusy, Staatsrechtler an der Universität Bielefeld, ausgemacht. Der immer wieder ausgeweitete Katalog der Straftaten in § 100a der Strafprozessordnung (StPO), der den kleinen Lauschangriff ermöglicht, Absenkungen der Eingriffsschwelle, die gerade stillschweigend verlängerte Verbindungsdatenabfrage gemäß § 100g und § 100h der StPO, die Handy-Ortung sowie die Telefonüberwachung für präventive Zwecke hätten hier eine neue Diskussion über die Rechtmäßigkeit der Maßnahmen ausgelöst.

Da eine "Kommunikation der Privatsphäre" auch über Telekommunikationsmedien erfolgen könne, hält Gusy nun den Grundansatz des Urteils auf den kleinen Lauschangriff für übertragbar. Der Abbruch einer solchen Maßnahme hänge vom besprochenen Inhalt ab und bedürfe einer gesetzlichen Regelung. Dringenden Nachbesserungsbedarf sieht Gusy ferner etwa bei der Lichtung des Verweisdickichts in den Regeln zur TK-Überwachung, bei der Dokumentations- und Benachrichtigungspflicht sowie der Ausgestaltung des "nachträglichen Rechtsschutzes der Betroffenen".

Viel Arbeit kommt laut Manfred Baldus auch auf die Länder zu. Der Professor für Öffentliches Recht an der Uni Erfurt, hält etwa einige Landespolizeigesetze für novellierungsbedürftig, die den Großen Lauschangriff sogar "präventiv" ermöglichen. "Das Stochern mit der Stange im Nebel soll gerade ausgeschlossen werden", positionierte sich Baldus gegen derartige "Vorfeldermächtigungen". Höchstens der Hinweis auf dringende Gefahren für die innere Sicherheit oder auf Lebensgefahr sowie drohende oder beeinträchtigende Gefahren für "hochrangige" Güter könne eine vorsorgliche Überwachung rechtfertigen. Im thüringischen Polizeigesetz werde die Maßnahme aber gar bei einer Gefahr für Tiere gestattet, solange deren Erhaltung im öffentlichen Interesse sei.

Generelle Zweifel hat Baldus zudem bei den Rechtsgrundlagen von Bund und Ländern, die den Großen Lauschangriff Verfassungsschützern und Geheimdienstlern an die Hand geben. Insgesamt erteile das Urteil der staatlichen Tendenz, den Adressatenkreis geheimer Schnüffeleien rasant zu erweitern und auf "immer mehr Unverdächtige, gar auf Jedermann" zu beziehen, eine deutliche Absage. (Stefan Krempl) / (jk)