Die totale Illusion

Die Sinne austricksen - das gelingt Forschern immer besser. Nun wollen sie die Illusion auf die Spitze treiben: Menschen sollen einen Avatar als eigenen Körper empfinden und damit virtuelle Welten erkunden.

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Von
  • Holger Dambeck
Inhaltsverzeichnis

Die Sinne austricksen – das gelingt Forschern immer besser. Nun wollen sie die Illusion auf die Spitze treiben: Menschen sollen einen Avatar als eigenen Körper empfinden und damit virtuelle Welten erkunden.

Früher ließ der Mensch sich noch ganz leicht täuschen. Im Jahr 1895 reichte ein Stummfilm in Schwarz-Weiß aus, um in einem gut gefüllten Pariser Café gehörig Unruhe zu stiften. Der auf der ersten öffentlichen Filmvorführung der Welt gezeigte Schwarz-Weiß-Streifen der Gebrüder Lumière enthielt unter anderem den Kurzfilm "Die Ankunft eines Zuges in La Ciotat". Die Zuschauer glaubten prompt, der Zug rolle direkt auf sie zu. Sie duckten sich, es gab Geschrei. Einzelne sollen sogar panisch aus dem Saal geflüchtet sein, weil sie fürchteten, gleich von der Lokomotive überrollt zu werden.

Mittlerweile ist gehörig mehr Aufwand nötig, um Menschen zu gruseln: Mehrkanalton, vibrierende Sitze und hochaufgelöste 3D-Bilder sollen etwa Besuchern von Freizeitparks das Gefühl vermitteln, sich mitten in einem Film zu befinden. Doch es gibt Wissenschaftler, denen das noch nicht reicht. Sie wollen die Grenzen zwischen Schein und Wirklichkeit einreißen. "Virtual Embodiment" heißt das Ziel. "Wir wollen bei einem Menschen die Illusion erzeugen, ein Avatar sei tatsächlich sein eigener Körper", sagt Thomas Metzinger, Philosophie-Professor an der Universität Mainz.

Wissenschaftler wie Metzinger wollen herausfinden, wie man sogenannte Out-of-Body-Experiences – außerkörperliche Erfahrungen – mit technischen Mitteln erzeugen und verstärken kann. Präsenz-Forschung haben sie ihr Metier getauft. Mit Präsenz meinen sie das Gefühl eines Menschen, sich in einer virtuellen Welt zu befinden, wobei sie von der Technologie, die diese Illusion erzeugt, gar nichts mehr mitbekommen. Eine solche Präsenz geht damit weit über die sogenannte Immersion hinaus, also die Fähigkeit des Menschen, in andere imaginäre Welten einzutauchen und die eigene Umgebung zu vergessen. Dieses Eintauchen in eine Fiktion tritt häufig auch beim Lesen eines spannenden Buches oder Anschauen eines fesselnden Filmes auf.

Berichte über darüber hinausgehende außerkörperliche Erfahrungen wurden von den meisten Forschern lange Zeit nicht ernst genommen. Es klang ihnen zu sehr nach Esoterik, wenn Betroffene schilderten, sie würden im Raum schweben und könnten sich dabei selbst im Bett liegen sehen. Seit einigen Jahren wissen Forscher jedoch, dass sich solche Zustände durchaus gezielt erzeugen lassen. 1998 demonstrierten die an der US-amerikanischen Princeton University arbeitenden Kognitionsforscher Matthew Botvinick und Jonathan Cohen erstmals, dass man Menschen dazu bringen kann, eine Kunsthand für ihre eigene zu halten. Das Experiment kann man sogar zu Hause durchführen – ein gefüllter Gummihandschuh und eine assistierende Person reichen.

So funktioniert diese Out-of-Hand-Experience: Die Testperson setzt sich an einen Tisch und legt ihren linken Arm unter eine Abdeckung, sodass er nicht mehr zu sehen ist. Rechts neben der Abdeckung wird die Kunsthand auf den Tisch gelegt. Dann nimmt ein Partner, der gegenüber sitzt, in jede Hand ein kleines Stäbchen und streichelt damit gleichzeitig die Kunsthand und die hinter der Barriere versteckte linke Hand.

Wenn die Berührungen synchron sind, passiert das Verblüffende: Der Proband erlebt die künstliche Gummihand als Teil seines eigenen Körpers. Wenn jemand einen Hammer über der Attrappe schwingt, bekommt der vermeintliche Besitzer Angst um seine Hand – das lässt sich sogar anhand von Hirnscans nachweisen.

Das Experiment elektrisierte die Wissenschaftler. Die International Society for Presence Research wurde gegründet, inzwischen arbeiten Forschergruppen weltweit an der totalen Illusion. 2010 ist das EU-Projekt "Virtual Embodiment and Robotic Re-Embodiment" (Vere) gestartet, um zu untersuchen, wie sich außerkörperliche Erfahrungen zur Steuerung von Robotern nutzen lassen.

Das Thema Präsenz ist interdisziplinär wie kaum ein anderes Forschungsgebiet, es führt Philosophen, Psychologen, Hirnforscher, Programmierer, Biometrie- und Robotik-Experten zusammen. Denn die Präsenz-Forschung rührt auch an unserem Verständnis, was ein Mensch eigentlich ist. Wenn das Ich nicht zwingend an den eigenen Körper aus Fleisch und Blut gebunden ist, wo hat es dann seinen Sitz? Der Mainzer Philosoph Metzinger ist überzeugt: Das "Ich" oder "Selbst" existiert gar nicht. Er erforscht die Illusionsmethoden, weil sie seine These belegen könnten. "Das bewusst erlebte Ich wird lediglich von unserem Gehirn erzeugt", schreibt er in seinem gerade erschienenen Buch "Der Ego-Tunnel". Was der Mensch wahrnehme, sei nichts als "ein virtuelles Selbst in einer virtuellen Realität".

Die Handillusion war erst der Anfang. Inzwischen ist es verschiedenen Forschergruppen gelungen, auch eine Ganzkörper-Variante zu erzeugen. Metzinger ging gemeinsam mit Forschern der ETH Zürich folgendermaßen vor: Sie filmten eine Versuchsperson von hinten und spielten ihr das Bild in eine Display-Brille ein. Der Proband sieht sich selbst also aus etwa zwei Metern Entfernung von hinten. Der Versuch wurde Dutzende Male in verschiedenen Varianten wiederholt – etwa indem die Versuchspersonen statt ihres eigenen Körpers auch eine von hinten gefilmte Ganzkörperpuppe zu sehen bekamen.

Dann wurden die Teilnehmer und die Puppe gleichzeitig mit einen Stab am Rücken gestreichelt. "Ich hatte augenblick-lich eine sehr merkwürdige Empfindung", berichtet Metzinger von seinem Selbstversuch. Er habe ein "unwirkliches Gefühl" gehabt und dann gespürt, wie er zu dem virtuellen Körper hingezogen worden sei. "Ich versuchte hineinzuschlüpfen", erinnert sich Metzinger, zur vollen Identifikation sei es aber nicht gekommen.